„Mich interessiert im Augenblick eher, ob ich dich jemals wieder sehe.“

„Wohl eher nicht, aber wer kann das schon so genau sagen.“

„Wenn mir das vorher jemand gesagt hätte, dass ich ungern hier weg gehe, von dir weg gehe, ich hätte denjenigen für komplett verrückt erklärt. Aber jetzt ... .“ Vera konnte die Tränen nicht mehr zurück halten, umarmte Falky schluchzend. Er drückte sie an sich, streichelte beruhigend über ihren Rücken. „Na, na, kleine Schwester, darf ich dich daran erinnern, dass ich dir einen sehr netten Mann an die Hand gegeben habe, der dich jetzt und für den Rest deines Lebens begleiten wird. Da brauchst du wirklich nicht meinetwegen zu weinen.“

Er schob Vera in Toms Arme. „Aber lasst euch eines gesagt sein, sollte ich je in Erfahrung bringen, dass ihr nicht nett miteinander umgeht, dann macht euch auf fürchterliche Rache vom Flaschengeist gefasst. Und jetzt ab an Bord mit euch!“ Entschlossen schob er die beiden Richtung Gangway. Für Vera sollte ein Kapitel in ihrem Leben, welches sie ganz entscheidend geprägt hatte, zuende gehen. Auch Falky konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, dass in seinem Leben schon bald eine geheimnisvolle Frau namens Jane Blond auftauchen sollte, die alles verändern würde.

 

 

 

Das Leben danach

 

Der Flug verlief ohne nennenswerte Vorkommnisse, ebenso die Landung auf einem kleinen Privatflughafen, der etwas außerhalb der Stadt gelegen war.  Vera konnte es kaum glauben, dass Sina tatsächlich am Flughafen wartete, sie ganz normal abholte, als wäre sie nur im Urlaub gewesen. Die Freundinnen umarmten sich. Sina redete aufgeregt drauflos.

„Also, das glaubst du nicht, was hier bei uns alles passiert ist. Sämtliche Zeitungen haben über deinen Urgroßvater berichtet. Sogar in den Fernsehnachrichten kam was über sein überraschendes Geständnis. Und irgendwie hängt das alles ja mit deiner rätselhaften Entführung zusammen. Du musst mir ausführlich darüber berichten. So richtig kriege ich die Geschehnisse nicht auf die Reihe, zumal deine Familie nicht sehr mitteilungsfreudig war, als ich wissen wollte, warum du so plötzlich verschwunden bist, nicht mehr vorbei kommst, dich nicht mal mehr meldest. Und wer der gutaussehende Kerl an deiner Seite ist, das musst du mir unbedingt auch verraten.“

„Schön und gut, aber nicht hier und jetzt. Lass uns zu dir fahren, in unser Zimmer, dass du doch hoffentlich für uns reserviert hast. Da haben wir dann Zeit und Ruhe, um über alles zu reden.“

Sie quetschten sich samt Gepäck in Sinas schon etwas altersschwachen Renault. Vera wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber alles zu Hause sah aus wie immer. Nichts schien sich verändert zu haben, seit sie fort gewesen war. Auch auf dem Bauernhof war alles beim Alten. Vera war heilfroh, endlich in ihrem Gästezimmer gewissermaßen in Sicherheit zu sein. Sie und Tom räumten ihre Sachen in die Schränke während Sina sich vorübergehend verabschiedet hatte.

„Richtet euch erst mal häuslich ein. Ich komme später wieder und bringe euch was zum Abendessen mit. Vera, ich denke, mit einer großen Pizza und Salat liege ich richtig? Und dann musst du mir unbedingt alles erzählen.“

 

Jetzt saßen Vera, Tom und Sina also zusammen, ließen sich Pizza und Salat schmecken, redeten endlos. Unter dem Sigel der Verschwiegenheit erfuhr Sina alles über Falky und Gabriele Goldhand, die Phönix-Organisation und die Hintergründe von Veras Entführung. Vera las mit großem Interesse sämtliche Zeitungsartikel, die Sina für sie aufgehoben hatte.

„Sag mal, weißt du eigentlich, was jetzt mit meinem Urgroßvater ist?“, fragte Vera. „Darüber steht nämlich hier nichts. Ich meine, wurde er jetzt verhaftet, nachdem alles über seine Nazi-Vergangenheit ans Licht gekommen ist?“

„Nee du, darüber weiß ich auch nichts. Wie gesagt, deine Familie war nicht sehr auskunftsfreudig mir gegenüber. Aber morgen willst du dich dort doch offiziell zurück melden. Dann wirst du, denke ich, alles erfahren. Übrigens, was ist denn jetzt aus deinen Plänen geworden, als Teilhaberin bei Dirk im Fitness-Studio einzusteigen? Ist das noch aktuell?“

„Aktueller denn je. Zumal jetzt auch die Finanzierung steht, ohne dass ich auf Geld von meiner Familie, von unserer Privatbank, angewiesen bin.“

„Sehr gut! Mein Bruder fürchtete nämlich schon, diese Möglichkeit hätte sich erledigt nach deinem Verschwinden.“

„Dann werde ich morgen bei ihm im Studio vorbei kommen, sobald ich bei meiner Familie war, und wir können den weiteren Ablauf besprechen. Übrigens, kann ich mir morgen früh einen von euren Pferdetransportern ausleihen? Ich möchte nämlich Ares so schnell wie möglich ebenfalls hier her schaffen.“

„Klar, kein Problem. Die Schlüssel bringe ich dir noch rauf. Ui, schon ganz schön spät geworden. Ich denke, wir sollten für heute Schluss machen. Sonst bist du morgen nicht fit genug, um das Wiedersehen mit deiner Familie durchzustehen.“

„Hast Recht. Also, gute Nacht und danke für alles.“

Auch Sina wünschte gute Nacht, dann waren Vera und Tom allein. Ihre erste gemeinsam Nacht in Veras Heimat, die sie in vollen Zügen genossen.

 

In aller Herrgottsfrühe fuhren Vera und Tom mit dem Pferdetransporter vor den Stallungen des Schlosses vor. Vera war ungeheuer aufgeregt. Endlich würde sie ihren Ares wieder sehen. Sie stürzte förmlich in den Stall, hin zu Ares Box. Im nächsten Moment ertönte Ares lautstarkes Freudenwiehern, mit dem er seine Herrin begrüßte. Tom, der langsam und gemächlich den Stall betreten hatte, wurde Zeuge, wie Vera ihr Pferd freudig umarmte, während Ares ungestüm versuchte, seinen Kopf an ihrer Schulter zu reiben, dabei aufgeregt hin und her tänzelte. Ein Mann betrat den Stall, sah zunächst nur die offen stehende Boxentür und Tom davor stehen, den er nicht kannte.

„Was zum ...“, begann er. Im nächsten Moment war Vera aus der Box heraus gekommen, dem alten Stallmeister ebenfalls um den Hals gefallen.

„Gregor! Was bin ich froh, dass es Ares gut geht! Dass Sie gut für ihn gesorgt haben!“

„Gräfin Vera! Sie sind wieder hier! Sie können sich nicht vorstellen, welche Aufregung hier herrschte. Ich war einer der wenigen Angestellten, die wenigstens ansatzweise in diese schreckliche Geschichte mit Ihrer Entführung eingeweiht wurden. Selbstverständlich wurden wir zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Und jetzt sind Sie wieder hier! Haben Sie denn schon Ihre Familie begrüßt?“

„Noch nicht! Ares wieder zu sehen, mich zu überzeugen, dass es ihm gut geht, ist mir wichtiger. Gregor, würden Sie so lieb sein und alle Sachen von Ares, sein Putzzeug, Sattel- und Zaumzeug, Pferdedecke, na, eben alles zusammen zu suchen. Ich möchte Ares nämlich von hier weg holen weil ich selbst auch ausziehen werde.“

„Selbstverständlich, Gräfin. Aber, finden Sie das nicht etwas überstürzt? Ich meine, es geht mich zwar nichts an, was Sie vorhaben, aber so ein bisschen waren Sie doch immer wie eine Tochter für mich.“

„Ach Gregor, schon vergessen, dass Sie die Gräfin immer weg gelassen haben und nur Vera gesagt haben. Und überstürzen tue ich gar nichts. Schon bevor das alles passiert ist, habe ich mein eigenes Leben geplant. Und ich hatte in den letzten Wochen sehr viel Zeit zum Nachdenken.“

Die Stalltür klappte, ein Schatten fiel über die Türschwelle. Wie angewurzelt blieb Ansgar stehen, so abrupt, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt.

„Vera ... wie ... was...?“

Veras Anblick schien ihm sowohl seine Bewegungsfähig als auch seine Fähigkeit, sich vernünftig zu artikulieren, geraubt zu haben. Innerlich seufzte Vera auf. Musste sie ausgerechnet ihren ungeliebten Cousin als erstes Mitglied ihre Familie wieder treffen? Entschlossen ging sie auf Ansgar zu.

„Tja, wie du siehst, befinde ich mich wieder in Freiheit. Und bevor ich alles, was es zu sagen gibt, etliche Male jedem Einzelnen erzähle, was hältst du davon, wenn wir uns jetzt gemeinsam in den Speisesalon begeben? Wenn sich die Gewohnheiten unserer Familie inzwischen nicht verändert haben, dann dürften sich doch jetzt so langsam alle zum Frühstück versammeln. Und dann kann ich allen zusammen erzählen, was mir in den letzten Wochen passiert ist und erfahre hoffentlich auch, was sich hier inzwischen getan hat.“

„Tja ... also ... wie du meinst.“

„Okay, kommst du, Tom? Bis später, Gregor!“

 

Vera hatte sich nicht geirrt, was die familiären Gewohnheiten des gemeinsam und pünktlich eingenommenen Frühstücks betraf. Inzwischen hatten sich alle versammelt; ihre Eltern, Ansgars Eltern, Großvater und Großmutter. Nur Ansgars jüngere Schwester, Carolina, fehlte. Dann hatte man sie wohl, den dramatischen Ereignissen zum Trotz, in besagtem Mädchenpensionat gelassen, um welches Vera sich so erfolgreich gedrückt hatte. Und Urgroßvater, der war ebenfalls nicht anwesend. Alle Köpfe wandten sich zur Tür. Im nächsten Moment ein Aufschrei von Veras Mutter. Mit den Worten: „Vera, mein Kind!“, stürzte sie sich auf ihre Tochter, riss sie in ihre Arme, schluchzte hysterisch. Vera fühlte sich merkwürdig beklommen, so, als wäre das nicht sie, die hier begrüßt wurde, sondern jemand, in dessen Rolle sie vorübergehend geschlüpft war. Alle drängten sich jetzt um sie, redeten auf sie ein. Vera versuchte, die aufgeregten Gemüter wieder zu beruhigen.

„Leute, jetzt setzt euch doch endlich mal auf eure Plätze. Ja, ja, ist schon gut, ich bin wieder da. Und ich denke, es gibt einiges zu besprechen.“

Ihr Mutter zog sie auf den Platz neben sich. Noch immer schluchzend brachte sie die Worte hervor: „Ach, Verakind, was musst du gelitten haben. Es war so schrecklich...“

Vera wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Die ganze Wahrheit würden die anderen nie erfahren. Und schrecklich war lediglich diese einmalige Angelegenheit, ihre drastische Bestrafung durch Phönix, gewesen. Ihr Vater war es schließlich, der sie aufforderte, alles zu erzählen. Vera blieb bei ihrer zusammen mit Falky ausgedachten Geschichte, die teils den Tatsachen entsprach, teils großzügig umgestrickt worden war. Entscheidend waren hauptsächlich die Punkte: Nein, sie hatte keine Ahnung, wo sie sich die ganze Zeit über befunden hatte. Sie hatte nie einen ihrer Entführer unmaskiert gesehen. Niemand hatte mehr als das nötigste mit ihr geredet. Dabei blieb sie, davon würde niemand sie abbringen. Zu ihrer großen Erleichterung erfuhr Vera, dass ihre Familie tatsächlich auch die Forderung „Keine Polizei“ erfüllt hatte. Lediglich ein sehr diskret arbeitender Privatdetektiv war eingeschaltet worden und der hatte nichts von Bedeutung heraus gefunden. Selbst ihre Version, dass man sie für ihre Freilassung betäubt hatte und dann einfach auf einer Parkbank abgesetzt hatte, glaubte ihre Familie. Und da sie Vera gut genug kannten wunderte sich auch niemand wirklich darüber, dass Vera sich zuerst mit ihrer Freundin in Verbindung gesetzt hatte und tags darauf erst mit ihrer Familie. Schwieriger war das Thema Tom. Geschickt schwindelte Vera: „Tja, Leute, eigentlich wollte ich euch Tom schon viel früher und unter günstigeren Umständen vorstellen. Aber da ist mir ja leider was dazwischen gekommen. Also, das ist Tom Berger, mein Verlobter, den ich in Kürze heiraten werde.“

Allgemeine Sprachlosigkeit. Veras Tante Charlotte, Ansgars Mutter, fand als Erste ihre Sprache wieder: „Und was ist mit Ansgar? Ist mein Sohn dir vielleicht nicht gut genug.“

Zu Veras Verblüffung beantwortete Ansgar die Frage: „Mutter, ich ertrage diese bissige Kratzbürste jetzt 18 Jahre lang. Glaubst du ernsthaft, ich möchte mich mein Leben lang mit ihr rumschlagen?“

„Abgesehen davon, dass ich geneigt bin, dir die bissige Kratzbürste übel zu nehmen, scheinen wir ja tatsächlich mal einer Meinung zu sein“, stimmte Vera ihrem Cousin zu.

„Ach, stimmt’s vielleicht nicht? Wie oft hast du mich denn schon gebissen?“

„Ungefähr so oft, wie du an meinen Haaren gezogen hast, meine Puppen massakriert hast, meine Sandburgen zerstört hast und meine Autos im Schlossteich versenkt hast!“

„Ich glaube, da verwechselst du was. Du hast meine Matchboxautos im Schlossteich versenkt.“

„Nachdem du mein Zwergkaninchen als fettes, verblödetes Vieh bezeichnet hast, dass du in der Schlossküche als Braten zubereiten lassen willst.“

Ansgar wandte sich von dem verbalen Schlagabtausch mit Vera über vergangene Vergehen ab seiner Mutter zu: „Du siehst es doch selbst, Mutter. Wir sind wie Geschwister zusammen aufgewachsen, haben uns wie Geschwister gegenseitig geärgert. Glaubst du ernsthaft, wir würden jemals heiraten? Von mir aus kann Tom sich mit ihr rumärgern. Vielleicht beißt, kratzt, tritt und schlägt sie ihn ja nicht.“

Tom konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ansgar würde nie erfahren, dass er Vera bereits ein gebrochenes Nasenbein und gebrochene Rippen verdankte. Vera wechselte das Thema.

„Übrigens warum hat mir noch keiner verraten, was jetzt mit Urgroßvater ist?“

„Tja, Vera, das ist eine traurige Angelegenheit“, begann ihr Vater. „Die ganze Aufregung hat ihn gesundheitlich stark angegriffen. Schlaganfall. Er liegt im Krankenhaus, hat sich ganz in der Vergangenheit verloren. Er erkennt keinen mehr von uns, hält uns für Leute, mit denen er früher zu tun hatte, wenn wir ihn besuchen und er ist bei Bewusstsein. Die Ärzte glauben nicht, dass er sich noch mal erholt, in seinem Alter.“

Großvater schaltete sich ein: „Ich weiß, Vera, nach allem, was du durchgemacht hast, ist das jetzt vielleicht zu viel verlangt. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du ihn im Krankenhaus besuchst. Vielleicht bringst du ihn in die Gegenwart zurück. Vielleicht versteht er es ja, dass du wieder da bist und die ganze, schreckliche Geschichte zuende ist.“

„Meint ihr nicht, dass zuallererst Vera einen Arzt braucht? Einen guten Therapeuten, der ihr hilft, über alles hinweg zu kommen?“, ereiferte sich Veras Mutter.

„Mama, ich bin okay, wirklich. Mein Therapeut, der sitzt neben mir.“ Dabei legte sie den Arm um Tom. „Und auch, wenn euch das jetzt wieder schockt, meine Therapie habe ich mir selbst verordnet. Den Plan hatte ich schon lange und Zeit genug, darüber nachzudenken, hatte ich auch.“

Fragend sahen sie alle an. Vera fuhr fort: „Ich plane, Teilhaberin im Fitness-Studio von Sinas Bruder Dirk zu werden. Keine Sorge, auch um die Finanzierung habe ich mich bereits gekümmert. Und ich werde ausziehen, mit Tom zusammen ziehen. Und das alles besser gestern als heute.“ Ohne auf die verblüfften Gesichter einzugehen fuhr Vera fort: „Und jetzt sollten wir uns endlich dem Frühstück widmen und anschließend werde ich einen langen Ausritt auf Ares machen.“

„Was dagegen, wenn ich dich begleite?“, fragte Ansgar.

„Würde es dich abhalten, wenn ich ja sage?“

„Nein, ich denke nur, ich sollte auf dich aufpassen. Oder übernimmt das in jetzt auch Tom?“

„Sorry“, bedauerte Tom, „aber in diesem Fall muss ich leider passen. Reiten habe ich bis jetzt noch nicht gelernt.“

„Ansgar hat Recht, Liebling“, mischte sich Veras Mutter ein. „Es ist wirklich besser, du bleibst vorläufig nicht allein.“

Vera seufzte auf, griff sich demonstrativ ein Brötchen. In den sauren Apfel würde sie beißen müssen.

Nach dem Frühstück begab sie sich zusammen mit Tom in ihr Zimmer um ihre Reitsachen anzuziehen. Kaum waren sie unter sich stöhnte Vera: „Puh, das ist doch anstrengender, als ich dachte, diese Schauspielerei aufrecht zu erhalten. Kaum zu glauben, aber meine Eltern scheinen sich ja ehrlich zu freuen, dass ich unbeschadet zurück bin. Aber was mache ich jetzt im Fall von Urgroßvater. Ich weiß nicht, ob ich diesen Besuch im Krankenhaus durchstehe.“

„Klar schaffst du das! Du bist doch stark, oder?“ Vera schmiegte sich in seine Arme.

„Tust du mir einen Gefallen?“

„Gerne, wenn du mir sagst, was.“

„Hier, meine Autoschlüssel. Mein Mercedes steht inzwischen wieder in unserer Garage. Den hat dieser Privatdetektiv wenigstens gefunden. Fährst du ihn bitte zum Hof von Sinas Eltern während ich ausreite?“

„Nanu, wie komme ich denn zu der Ehre, ganz offiziell dein geliebtes Auto fahren zu dürfen?“

„Ach weißt du, wenn ich eins von Falky gelernt habe, dann dass es wichtigere Dinge im Leben gibt als ein Auto, dass nur mir allein gehört. Dich zum Beispiel.“

„Wenn du mir jetzt noch einen Kuss gibst, dann mach ich es gern.“

Das ließ Vera sich nicht zweimal sagen.

 

Gregor hatte Ares inzwischen gestriegelt, dass sein Fell nur so glänzte. Vera ließ es sich nicht nehmen, ihr Pferd selbst zu satteln und zu zäumen während Gregor für Ansgar den braunen Wallach Rednex fertig machte.

„Kannst du nicht einmal selbst für dein Pferd sorgen?“, missbilligte Vera.

„Warum sollte ich? Gregor kriegt schließlich gutes Geld dafür, dass er seinen Job macht.“

„Dir ist echt nicht mehr zu helfen!“

„Und du bleibst anscheinend die burschikose Zicke, egal, was auch passiert.“

„Ansgar! Ich wollte es genießen, endlich wieder auf meinem Ares zu reiten und mir nicht schon vorher von dir die Laune verderben lassen!“

Beschwichtigend hob er die Hände. „Schon gut, ich sag nichts mehr.“

Wenig später saßen sie auf, ritten los. Vera versank in Tagträume in denen ihr geliebtes Pferd, mit dem sie endlich wieder vereint war, ein wilder Galopp durch die Wüste und ein charismatischer Mann auf einem herrlichen Berberhengst die Hauptrollen spielten. Ansgars Stimme riss sie jäh aus diesem schönen Traum.

„Erzählst du wenigsten mir, was da wirklich gelaufen ist?“

„Wie bitte?“

„Na, an deiner Entführung kommt mir einiges komisch vor. Wenn ich mir vorstelle, mehrere Wochen Ungewissheit, kein Kontakt zu Irgendwem, dazu noch körperliche Misshandlung. Nicht mal du kannst das so locker wegstecken und zur Tagesordnung übergehen, als wäre nichts passiert.“

„Wie du siehst kann ich sehr wohl. Und was willst du damit überhaupt andeuten?“

„Schon mal von fingierter Entführung gehört, bei der das angebliche Opfer selbst der Drahtzieher ist und das Lösegeld kassiert? Und du hattest die Wahrheit über Urgroßvaters Vergangenheit heraus gefunden.“

„Klar, und da gebe ich mich mal eben als Gabriele Goldhand aus, fälsche Videoaufnahmen und lasse mich auch noch verprügeln, damit es schön echt und dramatisch aussieht!“

„Das kann man alles geschickt inszenieren. Oder glaubst du etwa, Schauspieler in Filmen lassen sich tatsächlich verprügeln, wenn das Drehbuch so eine Szene vorsieht?“

„Du spinnst wohl total?!? Worauf willst du eigentlich hinaus?“

„Immerhin hast du unsere Familie einiges an Geld und Ansehen gekostet.“

„Jetzt mach aber mal nen Punkt! Habe ich vielleicht Beihilfe zum Massenmord geleistet? Habe ich meine Geliebte und meine Tochter verraten? Oh nein, so kommst du mir nicht! Egal, was du glaubst oder glauben willst, ich kann dir über die Entführung nichts anderes sagen, als ich bereits erzählt habe.“

„Trotzdem, aus reiner Neugier, wie gedenkst du denn deine Teilhaberschaft in diesem Sportstudio zu finanzieren?“

„Falls dir das entgangen ist, aber es gibt noch andere Banken außer unserer Hausbank. Außerdem ist das mein Geschäft und somit nicht deine Angelegenheit. Vielleicht sind solche betrügerischen Machenschaften ja dein Stil, meiner jedenfalls nicht!“

Er sah sie mit undefinierbarem Ausdruck an. „Nun, nur mal angenommen, ich liege doch nicht so ganz falsch mit meinen Vermutungen, dann war das ein Meisterstück, das ich nicht besser hätte hinkriegen können. Hut ab vor dir!“

„Bist du jetzt endlich fertig mit deinen Hirngespinsten?“, fragte Vera betont ruhig. Ohne seine Antwort abzuwarten trieb sie Ares zum Galopp. Ihre Gedanken rasten so schnell wie die Hufe ihres Pferdes. Ansgar war der Wahrheit ziemlich nahe gekommen, zog gleichermaßen falsche und richtige Schlüsse. Aber Falky war auch nicht dumm, der hatte sich gut genug abgesichert, dass ihm keiner auf die Schliche kommen konnte. Nein, es würde alles gut werden. Niemals würde Ansgar seine Vermutungen beweisen können, nicht zuletzt, weil die Polizei in ihrem Entführungsfall eben nicht eingeschaltet worden war. Aber sie würde auf jeden Fall mit Tom darüber beraten.

 

Vera parierte Ares wieder zum Schritt. Kurz darauf ritt Ansgar wieder neben ihr, sagte: „Nichts für ungut, lassen wir unser Thema von eben auf sich beruhen. Ist mir im Prinzip auch egal, ob du in der Sache mit drin steckst oder nicht. Aber du bist eben nicht die Einzige, die neugierig ist.“

„Und zu viel Neugier kann gefährlich sein.“

Den Rest des Rittes sprachen sie nicht mehr viel miteinander. Wieder zurück ließ Vera es sich natürlich nicht nehmen, ihren Ares selbst zu versorgen. Ansgar sah ihr dabei zu, lässig an der Boxentür lehnend, während Gregor sich um Rednex kümmerte. Vera rieb ihr Pferd gründlich trocken, striegelte es ausgiebig, legte ihm schließlich die Transportbandagen an und die Pferdedecke auf.

„Dir ist es also wirklich Ernst, du kannst nicht schnell genug wieder von hier verschwinden?“, fragte Ansgar endlich.

„Glaub mir, lieber Cousin, deine nette Gesellschaft macht mir den Abschied erst richtig leicht. Keine Sorge, ich gehe noch rüber ins Schloss um mich für heute ganz offiziell zu verabschieden. Sobald ich Ares verladen habe.“

Da Ares zu den Pferden gehörte, die keinerlei Mätzchen machten, wenn sie in den Transporter sollten, war dieser Teil schnell erledig. Zuletzt packte Vera noch Sattel- und Zaumzeug, Ares Putzkasten und weitere Kleinigkeiten ein. Ansgar machte die ganze Zeit keinerlei Anstalten, ihr zur Hand zu gehen. Aber etwas anderes hatte Vera von ihm auch nicht erwartet.

 

Nicht wenig überrascht war Vera jedoch, als sie feststellte, dass Tom noch immer auf dem Schloss war, soeben mit ihrem Eltern Tee trank. Er erhob sich, begrüßte Vera mit einer Umarmung und einem Kuss, sagte: „Deine Mutter hat mich gebeten, noch zu bleiben. Sie wollte nicht, dass du später alleine fährst. Meinte, es wäre sicherer, wenn ich hinter dir her fahre.“

Innerlich verdrehte Vera die Augen. Diesen übertriebenen und so völlig überflüssigen Sicherheitstick ihrer Mutter würde sie jetzt wohl ertragen müssen.

„Außerdem darf ich doch wohl neugierig auf meinen zukünftigen Schwiegersohn sein“, ließ ihre Mutter verlauten. „Wir haben uns sehr nett unterhalten. Ihr bleibt doch wenigstens noch zum Mittagessen, oder?“

Tom nickte Vera unmerklich zu, worauf diese sagte: „Ja, sicher, so viel Zeit haben wir noch.“ Sie würde Gregor eben übers Haustelefon bitten, sich um Ares zu kümmern, der ja bereits im Transporter stand und danach auf ihrem Zimmer duschen und sich umziehen. Vor dem Essen hatte sie keine Gelegenheit mehr, sich ungestört mit Tom unterhalten zu können. Den belegte ihre Mutter mit Beschlag, schien ganz angetan von ihm zu sein. Auch mit ihrem Vater unterhielt er sich überraschend gut, ebenso später bei Tisch mit den übrigen Familienmitgliedern. Vera staunte nicht wenig darüber, wie perfekt Tom gepflegte Konversation beherrschte. Diese Seite an ihm kannte sie gar nicht und ihr wurde zum 1. Mal bewusst, wie wenig sie im Grunde genommen über ihn wusste. Ihre Liebe allein hatte gezählt, alles andere war nebensächlich gewesen. Und die ungewöhnlichen Umstände hatten ein Übriges getan. „Ich hab ja mein Leben lang Zeit, ihn richtig kennen zu lernen, alles über ihn zu erfahren, was ich noch nicht weiß“, sagte sich Vera. Sie war so vertieft in ihre Gedanken, dass sie zunächst gar nicht merkte, dass ihr Großvater sie ansprach: „ ... einen Besuch im Krankenhaus?“, bekam sie von seiner Frage noch mit.

„Entschuldige bitte, aber heute nicht mehr. Morgen kommen wir sowieso noch mal her. Ich muss ja noch meine Sachen aus meinem Zimmer ausräumen. Danach können wir den Besuch dann einplanen.“

„Soll ich schon mal eins der Zimmermädchen anweisen, deine Sachen einzupacken?“, fragte ihre Mutter.

„Nein danke, du weißt doch, dass ich mich lieber selbst um meine Angelegenheiten kümmere. Danke für das Essen, es war, wie immer, vorzüglich. Tom, ich denke, für heute verabschieden wir uns.“

An Tom gewand sagte ihre Mutter: „Und bitte, pass gut auf Vera auf. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr noch mal so was passiert. Ich hab schon daran gedacht, diese Firma für Personenschutz ...“

„Mutter!“, unterbrach Vera. „Das ist jetzt wirklich übertrieben. Ich brauche keinen Personenschutz. Die Entführer haben erreicht, was sie wollten. Folglich bin ich auch nicht mehr in Gefahr.“

„Aber andere könnten auf die Idee kommen ...“

Zu ihrer eigenen Überraschung nahm Vera ihre Mutter spontan in den Arm. „Jetzt mach dich nicht verrückt. Ich habe alles heil überstanden und mir wird schon nichts passieren. Und jetzt muss ich dringend los. Dirk wird schon warten. Geschäftsbesprechung.“

Es war ungewohnt, dieses Wort zu benutzen. Aber als zukünftige Mitinhaberin im Fitness-Studio würde sie wohl noch öfter Geschäftsbesprechungen haben.

 

Zunächst galt es jedoch, Ares in sein neues Zuhause zu bringen. Vera fuhr mit dem Transporter vorweg, Tom folgte ihr. Sie wurden bereits von Sina erwartet.

„Ich hab deinem Ares die Box neben Angel hergerichtet. Immerhin kennen die beiden sich schon ganz gut von unseren gemeinsamen Ausritten“, begrüßte Sina die drei. Angel war Sinas Friesenrappe, der Ares interessiert beobachtete, als er seine neue Box in Besitz nahm.

„Ich möchte euch beiden auch gern umquartieren, wenn’s recht ist. Ich hab mit meinen Eltern abgesprochen, dass ihr eine der Ferienwohnungen haben könnt statt des Doppelzimmers. Da habt ihr dann auch Bad und Küche für euch allein, seid somit unabhängig. Über den Mietpreis müsst ihr euch dann mit meinen Eltern einigen. Ich würd’s gern machen, aber wir können es uns leider nicht leisten, euch umsonst wohnen zu lassen.“

„Das würde ich auch gar nicht annehmen“, bestimmte Vera. „Also haben wir jetzt noch eine geschäftliche Besprechung. Abschließen eines Mietvertrags für Wohnung und Pferdebox. Auf geht’s, Tom, das selbständige Leben verspricht, aufregend zu werden.“

 

In der Tat kam da einiges auf Vera zu und sie war froh, Tom an ihrer Seite zu haben. Auch wenn sie schon Einblicke in die Leitung des Studios gewonnen hatte, jetzt selbst und richtig dazu zu gehören, die Hälfte der Verantwortung zu tragen, das war ganz was anderes. Jetzt erst wurde Vera bewusst, wie unendlich viel sie noch zu lernen hatte. Nur gut, dass sie sich mit Dirk schon immer prima verstanden hatte und dass auch die Chemie zwischen Tom und Dirk sofort stimmte, da Tom ja die Verantwortung über den geplanten Bistrobereich übernehmen würde. Zunächst war das alles erst mal viel detaillierte Planung. Neben der beruflichen Planung hielt Vera ihr Versprechen ein, Urgroßvater im Krankenhaus zu besuchen, gleich an dem Tag, an welchem sie ihre Sachen abholte. Zunächst jedoch machte sie sich zusammen mit Tom ans Packen, wobei sie sich immer wieder in unzähligen Erinnerungen verlor, in etlichen „Weißt du nochs?“. Nein, Tom konnte nicht wissen, schließlich war er nicht mit dabei gewesen, aber er ließ es sich gern erzählen. Erinnerungen an die Abifete, verschiedene Reisen, Begebenheiten aus der Kindheit, sehr viele: „Ich wusste gar nicht mehr, dass ich das auch noch habe!“

„Wie es scheint, hast du nie gründlich ausgemistet“, neckte Tom.

„War auch nie nötig, hab ja genug Platz hier.“

Vera trennte sorgfältig zwischen den Sachen, die sie mitnehmen wollte und denen, die getrost bis auf weiteres in irgend einem Lagerraum vor sich hinschlummern durften. Platz gab es ja wirklich mehr als genug. Unbewusst versuchte Vera, den Zeitpunkt, an dem sie tatsächlich zum Krankenhaus fahren musste, hinaus zu zögern. Nach dem Mittagessen hatte sie jedoch keine Wahl mehr, machte sich zusammen mit ihrem Eltern und Tom auf den Weg.

„Und er erinnert sich wirklich nur noch an die Vergangenheit und kennt keinen mehr von uns?“, fragte Vera unsicher, bevor sie endlich das Krankenzimmer betrat.

„Bis jetzt war es jedenfalls so“, bestätigte ihr Vater.

Was dann jedoch passierte, erschreckte Vera ziemlich. Zögernd trat sie an das Bett ihres Urgroßvaters. In Erinnerung hatte sie ihn als einen Mann, der trotz seines hohen Alters noch geistig auf der Höhe und körperlich erstaunlich fit gewesen war. Jetzt war er eingefallen, blass und abgemagert. Zum ersten Mal fiel es so richtig auf, wie faltig sein Gesicht, wie schlohweiß sein spärliches Haar war. Die einst so strahlendblauen Augen, die oft recht hart und streng blicken konnten, starrten trüb ins Leere. Ein Schlauch führte in seine Nase, verschiedene Kabel und Schläuche schlängelten sich unter der Bettdecke hervor hin zu piepsenden Apparaten und Infusionen. Zögernd nahm Vera auf der Bettkante Platz. Sekundenlang drängte sich ihr die Vorstellung auf, ob Falky auch einmal so aussehen würde, irgendwann, in vielen Jahren. Noch zögernder ergriff sie seine Hand, eine schlaffe, magere, von Altersflecken übersäte  Hand, sprach ihn an: „Urgroßvater, hier ist Vera. Ich bin wieder zu Hause und es geht mir gut.“

Zuerst reagierte er gar nicht, dann sammelte sich sein Blick, er erwiderte schwach den Druck ihrer Hand, sagte dann mit heiserer Stimme: „Sarah, mein Liebes, wie schön, dass du mich besuchst.“

„Aber nein, ich bin nicht Sarah! Vera, deine Urenkelin!“

„Nicht doch, kleine Schelmin, ich werde mich doch noch an den Namen meiner geliebten Freundin erinnern. Und Urenkel, ich bitte dich, Liebes, so weit sind wir noch lange nicht.“

Vera wandte sich zu ihren Eltern um. „Er hält mich für Sarah?!?“, flüsterte sie schockiert.

„Lass ihn, versuch bitte nicht, ihm das auszureden, es hat keinen Sinn“, flüsterte ihr Vater zurück.

Tatsächlich sprach er auch weiter mit ihr, als wäre sie Sarah und sie befänden sich nicht im Krankenhaus sondern auf einem fröhlichen Sommerspaziergang. Vera spielte das Spiel mit, versuchte die Antworten zu geben, die Sarah vermutlich gegeben hätte, und dachte dabei die ganze Zeit, wie grotesk diese Situation doch war. Und ganz offensichtlich hatte ihm Sarah tatsächlich viel bedeutet, bis zu jenem Zeitpunkt, an dem er sie auf so grausame Art und Weise verriet. Endlich meinte Vera: „Wilhelm, es wird wirklich Zeit für mich, zu gehen. Wir sehen uns ein Andermal, ja?“

„Selbstverständlich. Für ein anständiges, junges Fräulein schickt es sich auch nicht, bis in den späten Abend hinein mit einem Mann unterwegs zu sein.“ Tatsächlich zog er ihre Hand zu einem Handkuss an seine Lippen.

 

Kam hatte Vera das Krankenzimmer wieder verlassen lehnte sie sich Halt suchend gegen Tom.

„Puh, ich glaube, darauf brauch ich erst mal einen ordentlichen Schluck Hochprozentiges! Was ist da eben grad passiert?“

„Ich sagte es ja bereits, er lebt nur noch in der Vergangenheit. Bisher hat er jeden von uns für irgend jemanden von früher gehalten. Seine Mitschüler, seine Kameraden beim Militär. Deine Mutter hat er mal für ein ehemaliges Stubenmädchen angesehen. Aber das mit Sarah, das ist allerdings ein Hammer. Wirst du unter diesem Umständen noch einmal herkommen wollen?“

„Ich ... weiß nicht so recht. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber er tut mir unendlich Leid. Und es käme mir nicht richtig vor, ihn einfach zu ignorieren, jetzt, wo er wohl nicht mehr lange zu leben hat.“

„Bist doch meine tapfere Tochter mit dem Herz am rechten Fleck. Na komm, eine Stärkung in der Cafeteria haben wir uns jetzt wohl alle verdient.“

 

Vera kam tatsächlich täglich wieder her. Sie bedauerte es, dass sie keine Möglichkeit hatte, mit Gabriele oder Falky Kontakt aufzunehmen. Was würde Gabriele wohl sagen, würde sie ihren Großvater jetzt sehen? Und Falky, würde der ihn immer noch verachten? Diese Fragen würden wohl ewig unbeantwortet bleiben. Dafür erlebte Vera in ihrer Rolle als Sarah unterhaltsame Stunden mit Wilhelm. Tatsächlich schien er ihre Besuche von Tag zu Tag sehnsüchtiger zu erwarten. Und während er den Rest des Tages in abwesendem Dämmerzustand verbrachte wurde er in Veras Gesellschaft erstaunlich lebendig. Etwas über eine Woche ging das so. Den Rest ihrer Zeit verbrachte Vera natürlich – ganz pflichtbewusste Geschäftsfrau – im Fitness-Studio. Auch Ares kam selbstverständlich nicht zu kurz. Ebenso wenig wie Tom, mit dem sie jeden Feierabend förmlich zelebrierte. Eines Morgens jedoch, der Betrieb im Studio hatte kaum angefangen, klingelte Veras Handy. Ihr Vater meldete sich.

„Vera, wenn es irgend möglich ist, solltest du schnell ins Krankenhaus kommen. Die haben uns gerade angerufen. Wilhelms Zustand verschlechtert sich dramatisch.“

„Bin schon unterwegs!“

Vera griff sich ihre Jacke und ihre Autoschlüssel. „Dirk, tut mir Leid, aber ich muss dich allein lassen. Das war mein Vater. Ein Anruf von Krankenhaus! Urgroßvater geht es auf einmal viel schlechter.“

„Warum bist du dann noch hier! Tom, was ist, willst du ihr nicht beistehen? Ich komm hier auch mal ohne euch zurecht!“

Vera fuhr, als wäre jede Sekunde, die sie zu spät kam, entscheidend. Tom versuchte erst gar nicht, sie zu angemessenerer Fahrweise anzuhalten. Am Krankenhaus sprang sie aus dem Wagen, kaum dass sie vor der Tür angehalten hatte.

„Park du bitte für mich ein und komm dann nach, ich muss ...!“ Weg war sie.

 

Die gesamte Familie hatte sich schon im Zimmer versammelt. Wilhelm befand sich in einem Zustand ungeheurer Aufregung, atmete heftig. Vera ging zu ihm hin, nahm seine Hand. Es dauerte einige Zeit, bis ihm ihre Anwesenheit bewusst wurde. Dann klammerte er sich geradezu an ihre Hand, schaute sie mit panischem Blick an.

„Sarah, mein Geliebtes, verzeih, verzeih. Ich habe dich so schmählich verraten! Was hätte ich denn tun sollen? Was wäre mit mir passiert, hätten sie es heraus gefunden. Ich bin so ein Feigling! Ich hätte mit dir zusammen fliehen sollen. Verzeih, Liebes, verzeih!“

Er weinte jetzt, umklammerte immer noch Veras Hand. Nach einiger Zeit wurde er ruhiger, fast entspannt, lächelte sogar.

„Sarah, du bist immer noch bei mir? Sieh nur, dort ist Gabriele, unsere Tochter. Ist sie nicht wunderschön?“ Vage deutete er in Richtung Fußende des Bettes. Unwillkürlich schaute auch Vera dorthin, konnte jedoch niemanden sehen. „Gabriele nimmt meine Hand. Sie sagt, ich muss jetzt mit ihr kommen. Ich brauche keine Angst zu haben. Wir werden uns bald wieder sehen. Alles wird gut.“ Er lächelte noch immer, glückselig, friedvoll. Seine Hand erschlaffte und Vera konnte förmlich spüren, wie ein Teil von ihm davon ging, einfach nicht mehr da war. Die Apparate neben dem Bett kommentierten es mit einem letzten, anhaltenden Piiiiep.

Nicht nur Vera weinte hemmungslos, registrierte kaum, dass Tom sie in den Arm nahm, fest und tröstend an sich drückte. Und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Vera mit den Menschen, die ihre Trauer teilten wirklich verbunden, empfand sie als ihre Familie.

 

 

Vorläufiges Ende; Fortsetzung folgt