Tötet Bernhard! – Oder: Die Rache der Adjektive
(27.10.08)

Wie jeden Tag hatte es sich Bernhard vor seinem PC gemütlich gemacht und loggte sich im Forum von Online-Geschichten ein. „Wollen doch mal sehen, was all die Möchtegern-Schreiberlinge heute wieder verbrochen haben“, dachte er für sich. „Ach, die lernen es doch nie! Halten sich für Gott weiß wen! Aber wenn ich ihnen nicht helfe, ihre Texte zu korrigieren, dann wird das doch alles nichts.“
Bernhard war im Forum einer der umstrittensten. Der oder die eine oder andere war tatsächlich dankbar für seine vermeidlichen Verbesserungsvorschläge. Die Mehrzahl jedoch hielt ihn für einen wichtigtuerischen Besserwisser. Noch ahnte Bernhard nicht, dass er sich mit seinen Kritiken an den Geschichten und Gedichten nicht nur die Schriftsteller zum Feind machte. Vor allem hasste Bernhard die Adjektive. Da! Schon wieder! Oh weh, lernten die armseligen, kleinen Schriftstellerchen es denn nie? Warum um alles in der Welt konnten Nomen nicht einfach Nomen sein? Warum musste es die schwarze Nacht, der hellste Stern, unlöschbares Feuer, ewiges Gefängnis, reines Geschöpf, makellose Haut, rosa Lippen, edle Hände, zarte Füße, klangvolles Lachen, düstere Nacht, sonnigster Tag, goldene Locken, frischer Wind sein? Ging es denn nicht auch weniger schwülstig?
Gerade als Bernhard ansetzte, zu diesem Überfluss an Adjektiven einen seiner üblichen Kommentare abzugeben, da passierte etwas eigenartiges, nie da Gewesenes. Der Text auf dem Bildschirm zerfloss zu einem Buchstabenwirbel welcher immer schneller und schneller herum wirbelte. Ja, dieser merkwürdige Wirbel kam nach und nach immer weiter aus Bernhards Bildschirm heraus, nahm feste Gestalt an. Plötzlich war der Spuk vorbei, der Bildschirm sah wieder normal aus. Doch unmittelbar neben dem PC auf dem Schreibtisch saß eine eigentümliche Gestalt. Die Figur und Größe war durchaus menschlich, jedoch war dieses Wesen ganz und gar weiß und von Kopf bis Fuß bedeckt mit … Bernhard schauderte es … jawohl, Adjektiven!
„W…w….wer b…b…bist d…du?“, stotterte Bernhard.
„Ich … tja … ich“, das Wesen machte eine dramatische Bewegung mit seiner schlanken Hand und eine lange, bedeutungsvolle Pause bevor es weiter sprach: „Ich bin der einzigartige, hochwichtige, unersetzbare, einstimmig gewählte und äußerst verärgerte Vertreter der Adjektive.“
„Vertreter der Adjektive?“, fragte Bernhard ungläubig.
„Jawohl! Und ich kann dir versichern, mein lieber Bernhard, wir sind alle sehr verärgert. Ach, was sage ich, wütend, aufgebracht, rachsüchtig, einige von uns sogar blutrünstig und mordlustig. Wir wollen es uns nicht länger gefallen lassen, wie du mit uns umgehst. Du gönnst uns nicht unsere Existenz, du streichst uns, wo immer du uns findest. Du hältst Adjektivitis für die schlimmste Krankheit, die einen Schriftsteller befallen kann. Das ist inakzeptabel, skandalös, empörend! Darum haben wir eine Widerstandsbewegung mit dem Namen „Tötet Bernhard“ gegründet. Ach ja, etliche Kommas, Bindestriche und Ausrufungszeichen, denen du ihre Existenzberechtigung nicht gönnen wolltest, haben sich unserem Widerstand ebenfalls angeschlossen. Und ich bin jetzt hier, um dich im Namen aller zu richten!“
„Aber, das könnt ihr doch nicht machen!“, protestierte Bernhard.
„So, und warum nicht? Wenn du uns nicht gönnst, dass wir nun mal da sind und auch ein Recht darauf haben, warum sollten wir es dir gönnen. Oder hältst du dich für so viel wichtiger als wir es sind?“
„Aber das konnte ich doch nicht ahnen, ich meine, dass ihr Adjektive so was wie lebende, fühlende Wesen seid…“
„Aber von den Schriftstellern, deren Texte du auseinander gepflückt hast, konntest du es nicht nur ahnen sondern wissen, dass sie fühlende, empfindsame, verletzliche Wesen sind. Doch das war dir egal!“
Bernhard fiel nichts weiter ein, was er dazu sagen konnte bis auf die bescheidene Frage: „Was erwartet ihr jetzt von mir? Ihr nennt euch „Tötet Bernhard“, aber das habt ihr doch nicht wirklich vor?“
„Was macht dich so sicher? Einige, viele von uns, die deinetwegen aus den Texten verbannt wurden, sinnen auf blutigste, grausamste Rache. Es hat mich sehr viel Überredungskunst gekostet, dass sie mir nicht gleich allesamt hierher gefolgt sind um dich zu lynchen. Doch du hast noch eine Chance, dein verwirktes Leben zu retten, eine allerletzte!“
„Und was muss ich tun?“
„Höre mir einfach zu und lerne!“
„Gut, ich bin bereit zu hören, was du zu sagen hast.“
So begann der Vertreter der Adjektive Bernhard nach und nach begreiflich zu machen, was er da völlig unbedacht angerichtet hatte.
„Höre, Bernhard, ich will mit einem einfachen Beispiel beginnen. Sage mir, die Schriftsteller, deren Texte du so gnadenlos auseinander nimmst, wie werden die sich wohl fühlen?“
Bernhard überlegte krampfhaft. Um das zu beschreiben musste er auf genau die Worte zurück greifen, die er so gern vermeiden wollte, die Adjektive. „Nun ja“, sagte er nach einem Moment des Nachsinnens, „ich denke, sie fühlen sich bevormundet, gekränkt, dumm und unfähig, abgekanzelt, traurig. Vielleicht aber auch verärgert, beleidigt, gedemütigt.“
„Das hast du sehr schön erkannt“, lobte der Abgesandte der Adjektive. „Sie fühlen nicht einfach nur so, sie fühlen auf eine sehr vielfältige Art und Weise, die man nur mit uns Adjektiven genau beschreiben kann. Aber weiter, du bist doch bestimmt schon mal in den Urlaub gefahren?“
„Ja, selbstverständlich.“
„Und wie kann so ein Urlaub sein?“
„Nun ja, er kann erholsam sein, spannend, abenteuerlich, lehrreich aber auch strapaziös.“ Auf einmal kam Bernhard richtig in Fahrt: „Ich hatte schon sonnige Urlaube verregnete und verschneite, unvergessliche, langweilige und stressige, arbeitsreiche und richtig schön faule.“
Begeistert klatschte der Vertreter der Adjektive in seine schlanken, zierlichen Hände. „Bravo, es geht doch! Und langsam kommst du drauf, was es mit uns Adjektiven auf sich hat. Auch ein Urlaub ist nicht einfach nur ein Urlaub. Er kann all das sein, was du eben selbst aufgezählt hast und noch viel mehr.“
Jetzt kam der Vertreter der Adjektive richtig ins Schwärmen: „Oder nimm die Nacht. Ist sie einfach nur eine Nacht? Oh nein, sie kann so viel mehr sein! Stockfinster oder mondhell und sternenklar, unheimlich oder romantisch, kalt oder mild, lang oder kurz, traumlos, leidenschaftlich, unruhig, stürmisch, schlaflos, durchtanzt, durchstreift, durchzecht, durchfahren, durcharbeitet. All das, aber niemals einfach nur eine Nacht. Oder nimm die Frauen! Ist eine Frau einfach nur eine Frau? Oh nein, nein und nochmals nein! Sie kann mädchenhaft, knabenhaft, matronenhaft sein. Sie kann jung oder alt, schlank oder füllig, wunderschön oder hässlich, klug oder dumm, blond, rothaarig, brünett, schwarzhaarig, reif oder kindlich, leidenschaftlich oder kalt, mütterlich, fürsorgend, liebevoll, sexy, anziehend, verführerisch, sinnlich, vollbusig, schmiegsam, begehrenswert und noch so viel mehr sein. Und all die vielen Geschichten und Gedichte erst die du nie, niemals nur mit dem kalten, nüchternen Sachverstand lesen darfst sondern nur mit einem fühlenden, verstehenden Herzen. Sie können spannend, romantisch, mitreißend, lebensnah, wahr oder erfunden, verständlich oder unverständlich sein. Denn jede wahrhaftige Geschichte, jedes Gedicht kommt direkt aus dem Herzen des Schriftstellers nicht aus seinem Verstand. Der Verstand tut nur das Seine dazu, dass die Rechtschreibung und die Grammatik stimmen. Die eigentliche Geschichte schreibt bei den wahren Schriftstellern immer das Herz. Und ein fühlendes Herz welches andere fühlende Herzen an sprechen will, kann ohne uns Adjektive nun mal nichts beschreiben. Und genau darum ist es Frevel, was du uns antust.“
Schweigend hatte Bernhard zugehört und langsam begann er zu begreifen. „Aber was bedeutet das jetzt für meine Zukunft? Wie soll ich mich euch gegenüber verhalten?“, fragte er endlich.
„Darüber haben wir lang und breit diskutiert, uns die Köpfe heiß geredet. Wie ich schon sagte, viele von uns waren einfach nur auf Rache aus, wollten deinen Kopf rollen sehen. Ich aber war mir sicher, dass du kein wirklich schlechter Kerl bist, dass es dir einfach nur an Einsicht mangelt. Und wie es scheint konnte ich dir diese Einsicht jetzt vermitteln.“
„Oh ja, das hast du!“, musste Bernhard kleinlaut zugeben.
„Gut, dann lass uns einen Vertrag machen, hier und jetzt, einen bindenden Vertrag, aus dem du nicht einfach aussteigen kannst.“ Aus einer unsichtbaren Tasche seines Gewandes zauberte der Vertreter der Adjektive ein Schriftstück hervor dessen Inhalt er Bernhard mit lauter, klarer Stimme vorlas: „Hiermit verpflichte ich, Bernhard, mich, ab sofort keine ungebetenen Veränderungen an fremden Texten mehr vorzunehmen. Ab sofort werde ich sämtliche Adjektive, Kommas, Ausrufungszeichen und Bindestriche an dem vom jeweiligen Schriftsteller ange-stammten Platz belassen und nie wieder vernichtende Kommentare über die Vorgenannten abgeben. Ferner verpflichte ich mich, dieselbe Erklärung auch im Internetforum abzugeben und die Schriftsteller dort ab sofort mit meinen Kommentaren zu verschonen. Sollte ich mich nicht an die Abmachung halten wird dies nicht einfach nur meinen Tod sondern meinen langsamen, qualvollen, grausamen, unnatürlichen, vielfachen Tod, herbeigeführt durch die Adjektive, zur Folge haben.“
Schweren Herzens griff Bernhard zu seinem Füllfederhalter und unterschrieb die Vereinbarung. Was blieb ihm auch anderes übrig?

Gähnend reckte und streckte sich Bernhard. Seine Muskeln waren steif und völlig verkrampft. Das war ihm ja noch nie passiert, dass er am Schreibtisch sitzend einfach so einschlief. Und dieser eigenartige, so realistische Traum erst! Ein Vertreter aufgebrachter Adjektive, der ihn zu einem absurden Vertrag zwang, unglaublich! Doch was war das? Verblüfft und verständnislos schaute Bernhard auf das Schriftstück, welches neben seinem PC auf dem Schreibtisch lag. Wie war das dort hin gekommen. Und sein neuestes Posting im Forum, welches er auf seinem Bildschirm las: „Hiermit verpflichte ich, Bernhard …“

Von diesem Tage an gab es keine neuen Kommentare mehr von Bernhard im Online-Geschichten Forum zu lesen.