Hasenfuß
(04.04.09, wieder eine Hausaufgabe der Schreibwerkstatt. Titelvorgabe „Hasenfuß“, die Geschichte soll von Neugier handeln.)

Der kleine Hase Flopci war das, was man mit Fug und Recht als Angsthase oder Hasenfuß bezeichnen konnte. Aus seinem Bau wagte er sich kaum zum Fressen heraus um dann, sobald er halbwegs gesättigt war, blitzschnell wieder im sicheren Bau zu verschwinden. Dass Flopci so überängstlich war, war gewiss nicht seine Schuld. Seine Eltern hatte er schon früh verloren, war zusammen mit seinem 5 Minuten älteren Bruder DomDom bei seiner Tante Haselinde aufgewachsen. Tante Haselinde war schon früh verwitwet und sie liebte es geradezu, immer und immer wieder vom schrecklichen Tod ihres geliebten Gatten Hans zu erzählen. Wie er von einer kläffenden Hundemeute gejagt worden war, dann ein Schuss … und bestimmt hatte der Jäger den armen Hans als Hasenbraten auf den Tisch gebracht.
„Die Welt ist voller Gefahren, und die Menschen erst …“ So pflegten Tante Haselindes Erzählungen stets zu enden. Doch nicht nur vom tragischen Tod ihres Gatten berichtete sie immer wieder. Ebenso musste sich der kleine Flopci wiederholt anhören, wie seine armen Eltern der Fuchs geholt hatte, wie eine entfernte Cousine vom Auto überfahren wurde und ähnliche Schauergeschichten mehr.
Wen wunderte es also, dass Flopci das Bild der Welt da draußen voller Gefahr für Leib und Leben so sehr verinnerlicht hatte, dass er sich nicht aus seinem Bau traute. Wie sein Bruder DomDom es dennoch geschafft hatte, genau das Gegenteil von Flopci zu werden, bleibt ein Rätsel. Vielleicht gerade seiner Tante zum Trotz, die allein beim Gedanken an jedwede Gefahr vor Angst fast umkam? DomDom war geradezu wagemutig. Oft kam er freudig erregt mit glänzenden Augen nach Hause gehetzt und prahlte damit, dass er wieder einmal in letzter Minute einem Hund, einem Fuchs, einmal sogar einer Schlange, entwischt war. Und der überlegene große Bruder beendete seine Erzählungen stets, indem er geringschätzig zu Flopci sagte: „Du bist und bleibst ein Hasenfuß! Mit dir ist nichts anzufangen.“
Diese Worte verletzten Flopci sehr und halfen keineswegs, seine Angst zu überwinden. Eines Tages jedoch kam DomDom nach Hause und überkugelte sich fast vor lachen. Es dauerte eine ganze Zeit, bis er in der Lage war zu sprechen.
„Also, mein Kumpel hat mir eben eine Geschichte erzählt, die ist so unglaublich“, eine erneute Lachsalve unterbrach seinen Bericht. „Morgen feiern die Menschen ein Fest, welches sie Ostern nennen. Und zu diesem Fest, das glauben die doch tatsächlich, sollen Hasen, Osterhasen, Eier bunt anmalen und in den Gärten und Häusern der Menschen verstecken. Ha, ha, ha! Osterhasen die Eier anmalen, um sie zu verstecken, ausgerechnet bei den Menschen! So was Blödes hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört.“
Noch immer schüttelte ihn das Lachen, während Flopci auf einmal sehr nachdenklich geworden war. Für ihn klang das gar nicht so blöd sondern nach einer wunderschönen Geschichte. Und er beschloss, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Morgen also sollte dieses Ostern stattfinden!

In der Nacht konnte Flopci kaum schlafen vor Aufregung. Noch wusste er nicht, wie er heraus finden sollte, was es mit den Osterhasen und den bunten Eiern auf sich hatte. Nur eines war ihm klar. In seinem Bau hockend würde er nichts erfahren, dazu musste er die Nähe der Menschen aufsuchen und das war … lebensgefährlich! Da ihn seine Neugier so sehr plagte, dass er ohnehin kein Auge zubekam wagte sich Flopci bereits im Morgengrauen vorsichtig an den Eingang seines Baus. Langsam steckte er seine Nase heraus, witterte in alle Richtungen, stellte seine Lauscher auf. Nein, er roch, sah und hörte nichts, was auf eine Gefahr hindeutete. Zögernd machte er den ersten Hopser nach draußen, dann den zweiten. Sein kleines Hasenherz pochte heftig vor Aufregung. Ein paar weitere Hüpfer weg von der vertrauten Sicherheit. Umkehren? Weiterlaufen? Die Neugier kämpfte mit der Angst und siegte. Weiter und weiter wagte sich Flopci auf unbekanntes Gebiet.
Schließlich kam er an einen Zaun. Und hinter dem Zaun befand sich ein Garten mit einem Haus, das Revier der Menschen. Wieder zögerte Flopci, aber jetzt war er schon so weit gekommen, da kam aufgeben nicht in Frage. Er quetschte sich unter dem Zaum hindurch, pirschte sich in den Garten hinein und sah sich im nächsten Moment einem goldig glänzenden Etwas gegenüber, welches in breit angrinste. Entsetzt machte Flopci einen Riesensatz zur Seite, hinein in ein sicheres Gebüsch. Dort wartete er atemlos mit rasendem Herzen. Nichts passierte. Also wagte Flopci aus seinem Buschwerk heraus einen Blick auf dieses goldglänzende Etwas. Dieses saß noch genau so unbeweglich da wie eben. Und es sah tatsächlich ziemlich genau wie ein Hase aus, nur kleiner und Fell hatte es auch nicht. Flopci schnupperte. Ein merkwürdig süßer Geruch ging von diesem seltsamen Hasen aus. Flopci kannte keine Schokolade, sonst hätte er diesen Geruch identifizieren können. Nach langem beobachten und überlegen war Flopci sicher, dass dieser Hase nicht lebendig war. Aber was war er dann? Sollte das der Osterhase sein, von dem DomDom gesprochen hatte?
Vom Haus her waren Geräusche und Stimmen zu hören. Eine Tür wurde geöffnet und zwei Kinder – ein Junge und ein Mädchen – kamen in den Garten gerannt. Menschen! Flopci wurde es ganz anders bei diesem Anblick. Tief drückte er sich in sein verbergendes Gebüsch hinein, beobachtet dennoch ganz genau, was die Kinder taten. Jedes von ihnen hatte ein kleines Körbchen in der Hand. Mit aufgeregten Rufen liefen die Kinder im Garten hin und her, sammelten irgendetwas auf. Jetzt konnte Flopci es erkennen. Das waren Eier die genau so goldig und in allen Regenbogenfarben glitzerten wie der Hase, der noch immer reglos im Gras saß.

Der Junge war auf einmal ganz nahe und Flopci versuchte, unsichtbar mit dem Erdboden zu verschmelzen. Als der Junge mit heller Stimme rief: „Der Osterhase! Ich habe den Osterhasen gefunden!“, glaubte Flopci zunächst, dass er den Goldhasen meinte. Bis ihn eine kleine Hand fest im Genick packte und hochhob. Flopci war kurz davor, ohnmächtig zu werden, hing wie erstarrt in der Hand des Jungen, der jetzt zum Haus hinlief.
„Hasenbraten“, war alles, was Flopci denken konnte.
„Mama! Papa! Seht nur, der Osterhase!“
Die ganze Familie hatte sich jetzt um den Jungen und den vermeidlichen Osterhasen versammelt. Die Kinder bettelten um die Wette: „Oh, der ist so süß! Dürfen wir ihn behalten?“
Die Eltern sahen sich unsicher an. Der Vater verschwand schließlich im Schuppen, kam nach einiger Zeit mit einem Käfig zurück. Er versuchte, seinen Kinder zu erklären: „Das ist nicht der Osterhase. Und es ist auch kein zahmes Zwergkaninchen. Den müssen wir wieder freilassen. Aber ich denke, zum Frühstück kann er unser Gast sein.“
So fand sich Flopci unversehens im Käfig wieder, wagte noch immer kaum zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen. Die Familie versammelte sich um den auf der Terrasse gedeckten Frühstückstisch, Flopci in seinem Käfig bekam ebenfalls einen Platz auf einem Stuhl. Dann passierte etwas Merkwürdiges. Die Käfigtür wurde noch einmal geöffnet und etwas vor Flopcis Nase gelegt. Das war … Flopci schnupperte ungläubig … doch wahrhaftig ein köstlicher reifer Apfel. Der Apfelduft erinnerte Flopci daran, dass er vor lauter Aufregung noch gar nicht gefrühstückt hatte. Und sehr zur Freude der Kinder begann er, eifrig an dem Apfel zu nagen. Dabei fragte er sich die ganze Zeit verwundert, wie es nur möglich war, dass ihm diese Menschen, die er aus Tante Haselindes Erzählungen nur als höchst bedrohlich kannte, offensichtlich so freundlich gesonnen waren. Als Flopci mit seinem Apfel zu Ende war bekam er noch einige Gurkenstücke und sogar eine Scheibe Tomate. So gut und ausgiebig hatte er nie zuvor gegessen.
Auch die Menschen hatten ihr Frühstück beendet. Als erstes erhob sich der Vater vom Tisch. „Es ist Zeit, unseren Gast wieder zu verabschieden.“ Die Kinder protestierten zunächst, sahen dann aber ein, dass Flopci zurück in seine natürliche Umgebung gehörte. So wurde der Käfig an die Grenze des Grundstücks getragen und dort geöffnet. Flopci mochte es zunächst gar nicht glauben. Die Menschen hatten ihn nicht nur gefüttert und freundlich behandelt, sie ließen ihn sogar wieder frei, brachten ihn nicht als Sonntagsbraten auf den Tisch! Eilig und erleichtert hoppelte er von dannen.
„Wiedersehen, Osterhase! Und besuch uns bald wieder!“, hörte er das kleine Mädchen noch rufen.

Zu Hause waren Tante Haselinde und Bruder DomDom in heller Aufregung. Von Tante Haselinde hatte Flopci ja nichts anderes erwartet, aber das sogar sein Bruder ernsthaft besorgt war, Angst hatte, um ihn?
„Flopci! Wo bist du nur gewesen? Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht!“, riefen die beiden durcheinander, drängten sich eng an Flopci heran, schleckten ihm erleichtert das Fell. Und Flopci erzählte, völlig angstfrei vor seinem Bau in der Sonne sitzend, von seinem unglaublichen Abenteuer.
„Alle Achtung!“, bemerkte DomDom anerkennend, „ich werde dich nie wieder Hasenfuß nennen. Und ich werde nie wieder über die Menschen und ihren Glauben an den Osterhasen lachen.“

So hat Flopci es geschafft, mit seiner Neugier seine Angst zu besiegen. Und zusammen mit seinem Bruder hat er noch so manchen Besuch bei seinen neuen Menschenfreunden gemacht.