Hexe, Werwolf und Vampir
(26.08.09)

Einst lebte in einem entlegenen Häuschen im Wald die Hexe Lunara. Sie führte ein einsames, zurückgezogenes Leben. Das war nicht immer so gewesen. Lange Zeit hatte sie ihr Leben mit dem Zauberer Georges geteilt. Dieser jedoch war leider reichlich ungeschickt im Umgang mit der Magie, hatte sich letztlich mit einem gründlich misslungenen Zaubertrank selbst vergiftet. Seitdem hatte sich Lunara ganz in ihre eigene kleine Welt zurück gezogen, lebte ausschließlich für ihren sorgsam gepflegten Kräutergarten. Gelegentlich half sie den Menschen, die den weiten Weg zu ihr in Kauf nahmen, um ihre Hilfe zu erbitten. Doch das kam nur äußerst selten vor.
Lunara störte dies nicht weiter. Sie liebte es, allein zu sein. Die Gesellschaft der Tiere des Waldes reichte ihr vollkommen. Eines Abends jedoch wurde sie völlig überraschend in ihrer Einsamkeit gestört. Vor ihrem Häuschen tauchte ein junger Mann auf, der sich als Leander vorstellte. Verzweifelt berichtete er ihr, dass er sich kürzlich zu seinem großen Erschrecken in einen Werwolf verwandelt hätte. Diese Verwandlung sei für ihn so furchtbar und vor allem unkontrollierbar, dass er nicht wisse, wie er in Zukunft damit umgehen solle. Lunara tröstete und beruhigte Leander. Sie erklärte ihm, dass sie ihn zwar nicht grundsätzlich davon befreien könne, sich in einen Werwolf zu verwandeln. Jedoch könne sie ihm einen Trank brauen, der, wenn er regelmäßig eingenommen würde, die Situation für ihn erleichterte und es ihm ermöglichen würde, auch als Werwolf die Kontrolle über sein Tun zu behalten. Leander dankte ihr erleichtert. Nach einigem Zögern und Herumdrucksen rückte Leander noch mit einer weiteren Bitte heraus. Da er sich nicht mehr getraute, weiterhin unter den Menschen zu leben, jedoch auch nicht wisse, wohin er stattdessen sollte, ob sie nicht eine Bleibe für ihn wüsste.
Da Lunara an Leander durchaus Wohlgefallen gefunden hatte – er war in seiner menschlichen Gestalt ein großer, dunkler, gut gebauter Mann, der liebevoll und etwas schüchtern wirkte – und sie ihn weder als Mann noch als Werwolf fürchtetet, schlug sie ihm vor, er könne bei ihr in ihrem Häuschen bleiben. So sei es auch einfacher für ihn, regelmäßig den benötigten Zaubertrank zu bekommen.
So war es ohne viele Worte beschlossen, das Leander von Stund an ein fester Bestandteil in Lunaras Leben war. Er half ihr bei den gröberen Arbeiten in Haus und Garten, saß abends mit ihr in angeregten Gesprächen zusammen, wobei es sich beinahe automatisch und unbemerkt ergab, dass sie sich ineinander verliebten. Erst jetzt durch Leander wurde Lunara klar, wie sehr ihr seit Georges Tod doch ein Mann gefehlt hatte. Der Werwolf in ihm störte sie nicht im Geringsten. Sie gab sich ihm ganz und gar hin und so kam es, dass Lunara bald schon feststellen musste, dass sie in der Hoffnung war. Leander war außer sich vor Freude, als Lunara ihm übers Jahr Zwillinge gebar, Knaben, die sie Canis und Lupus nannten.
Unversehens waren sie nun zu einer richtigen Familie geworden. Doch wer glaubt, jetzt käme das übliche „und sie lebten glücklich bis an ihr Ende“, der irrt gewaltig. Da Leander sich als liebevoller, fürsorglicher Vater erwies, war es Lunara möglich, trotz ihrer Kinder oft den ganzen Tag oder auch in der Nacht allein unterwegs zu sein, um nach seltenen Kräutern zu suchen. Eines Tages nun war sie aufgebrochen, ein Kräutlein zu finden, welches nur in einer einzigen Vollmondnacht im Jahr, stets am 28.10., an einer ganz bestimmten Stelle blühte, seine Zauberkraft nur entfaltete, wenn es pünktlich in dieser einen Nacht gepflückt wurde. Schon zeitig war Lunara von zu Hause aufgebrochen um beizeiten vor Ort zu sein. Die Familie hatte sie wohlversorgt zurück gelassen.
Wie erwartet erblühte das Kräutlein, sobald der Vollmond es mit seinem Licht berührt hatte. Lunara pflückte eifrig bis wie aus dem Nichts eine Gestalt neben ihr auftauchte, die ihr eine Gänsehaut am ganzen Körper verursachte. Mit einem Schreckensschrei fuhr Lunara auf. Dieser so plötzlich aufgetauchte Fremde konnte nur eines sein, ein Vampir!

Nach dem ersten Schrecken schalt sich Lunara eine dumme Gans. Gewiss, Vampire waren stark, schnell und manche von ihnen recht mächtig. Aber dem hatte sie mit ihrer Magie schon einiges entgegen zu setzen. Zunächst stand der Vampir einfach nur da wie eine Statue, musterte Lunara mit hellen, glühenden Augen. Dann hub er an, mit singender, betörender Stimme zu sprechen: „Hab keine Angst, Hexe. Ich habe dich nicht aufgesucht, um dir etwas anzutun. 250 Jahre lebe ich nun so – ach, was heißt schon Leben, in meinem Fall – und ich habe es satt! Satt, Jagd auf Menschen machen zu müssen! Unschuldige zu töten, nur um meinen Blutdurst zu stillen. Ich kann nicht anders, es liegt in meiner Natur. Und ich bin zu schwach, es aus eigener Kraft zu schaffen, dem menschlichen Blut zu entsagen, nur noch das Blut von Tieren zu trinken. Dann hörte ich von dir, davon, dass deine Tränke und Sprüche wahre Wunder bewirken können. So komme ich zu dir und bitte dich, mich von diesem unsäglichen Durst auf Menschenblut zu heilen.“
Mit einer dramatischen Geste breitete er die Arme aus, ließ sie wieder sinken und stand still und unbeweglich wie zuvor, Lunara eindringlich ansehend. Die Gänsehaut, die sein unvermutetes Auftauchen verursacht hatte, war inzwischen einem Prickeln gewichen, das Lunara nicht einzuordnen wusste. Dieser Vampir, er war so … so wunderschön! Groß, bleich, irgendwie strahlend, ja, Macht und Stärke ausstrahlend und dennoch eine gewisse Verzweiflung und … Verletzlichkeit? Hätte Lunara nicht gewusst, dass sie ein gefährliches Geschöpf der Finsternis vor sich hatte, sie hätte geglaubt, ein Engel hätte sich direkt vom Himmel zu ihr hin verirrt. Wie lange sie ihm einfach gegenüber stand, ihn bewundernd anstarrte, sie wusste es nicht. Unbeirrt starrte der Vampir zurück, sprach schließlich erneut mit seiner melodischen Singsang-Stimme: „Verzeih, wie unhöflich, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Man nennt mich Andomeas den Engelsgleichen.“
Er streckte Lunara seine Hand entgegen, die sie zögerlich ergriff, sich ihrerseits vorstellte. Bei der Berührung mit seiner kalten, dennoch samtweichen Haut verstärkte sich das Prickeln. Der Engelsgleiche wurde er also genannt. Und eben hatte sie noch gedacht, dass er eher einem Engel als einem Dämon glich. Wie von selbst formten ihre Lippen die Worte: „Ich werde dir helfen, Andomeas. Nur weiß ich im Moment noch nicht, wie. Ich werde daheim in meinen Büchern nachschlagen müssen …“
Ja, und da waren Leander und die Kinder, wie Lunara in diesem Moment siedend heiß einfiel. Wie hatte sie das auch nur eine Sekunde vergessen können? Werwölfe und Vampire waren Todfeinde, seit ewigen Zeiten schon. So lange, dass eigentlich niemand mehr wusste, warum. Und jetzt war sie, deren Lebensgefährte ein Werwolf war, der ihr 2 wunderbare Kinder geschenkt hatte, auf dem besten Weg, einem Vampir nicht nur zu helfen sondern sich auch … ja was überhaupt? Sich von ihm angezogen zu fühlen? Von ihm fasziniert zu sein? Sich gar in ihn zu verlieben? Was sollte sie also tun? Nach einem Moment des Nachsinnens sprach sie: „Andomeas, ich bin mir nicht sicher, ob ich die Richtige bin, dir zu helfen. Es verhält sich nämlich so, dass ich …“
„Ja, dass du was?“
„Dass ich mein Leben mit einem Werwolf teile, mit ihm eine Familie gegründet habe.“ An dieser Stelle unterbrach Andomeas ihre Worte mit einem tief aus der Kehle kommenden Grollen. Lunara ließ sich nicht beirren, redete weiter: „Um den richtigen, wirksamen Zaubertrank für dich zu finden müsstest du jedoch in meiner Nähe weilen. Ich werde sicher einige Zeit ausprobieren müssen, bis der Trank die gewünschte Wirkung erzielt. Und du wirst regelmäßig Nachschub brauchen. Ich weiß jedoch nicht, wie wir das bewerkstelligen sollen, dass du dich dauerhaft in der Nähe deines … Todfeindes aufhältst.“
Andomeas grollte noch immer: „Hm, ärgerlich, SEHR ärgerlich. Dabei bist du die Einzige, von der ich mir Hilfe erwartete. Nehmen wir mal an, ich täte so, als würde es diesen … diesen Werwolf, verzeih, deinen Lebensgefährten, nicht geben, mich in deiner Nähe in einer Höhle verstecken, tagsüber. Und nachts kommst du zu mir, wegen des Zaubertranks natürlich.“
„Wegen des Zaubertranks, natürlich“, wiederholte Lunara mechanisch. „Doch, es könnte so gehen, wie du es sagst. Aber wenn Leander es heraus findet?“
„Dann beleg ihn mit einem Zauber, der ihn nichts von alldem bemerken lässt.“
„Es widerstrebt mir, Leander zu belügen. Aber vielleicht hast du Recht, ein Zauber könnte helfen.“ Leise, mehr für sich selbst, fügte sie noch hinzu: „Und … ich tue ja nichts schlimmes, eigentlich.“
Andomeas ergriff ihre Hand, sah ihr tief in die Augen. „Ich werde mich nach einer Bleibe in deiner Nähe umsehen. Geh du nur ganz normal zurück nach Hause, schlage in deinen Bücher nach, wegen eines Tranks, der mir helfen kann. Ich sende dir eine Fledermaus als Boten, wo du mich finden kannst.“
Ein letzter Blick, und er war, einem huschenden Schatten gleich, zwischen den Bäumen verschwunden.

Lunara vermochte kaum zu begreifen, was ihr soeben widerfahren war, worauf sie im Begriff war, sich einzulassen. Nur gut, dass sie bereits ausreichend von den seltenen Kräutern ge-pflückt hatte. Nach dieser Begegnung mit Andomeas wäre sie zu keiner vernünftigen Arbeit mehr im Stande gewesen. Eine Weile noch stand sie wie verloren herum, dann griff sie aufseufzend nach ihrem Hexenbesen, schwang sich darauf, um den weiten Weg zurück zu Leander und ihren Kindern zu fliegen. Wieder daheim, wo sie von ihrer Familie aufs Liebevollste begrüßt wurde, wo alles so herrlich normal und vertraut war, seinen gewohnten Gang wie immer ging, war Lunara beinahe geneigt, diese nächtliche Begegnung mit dem faszinierenden Vampir als pure Einbildung abzutun. Hören tat sie längere Zeit nichts von ihm. Dennoch begann sie, gewissenhaft in den dicken, alten, seit Generationen vererbten Hexenbüchern nachzulesen, ob es für Andomeas speziellen Fall einen wirksamen Trank oder Spruch gab, der sein Verlangen nach menschlichem Blut unterdrücken konnte. Leander ahnte von alldem nichts.
Eines Nachts, nachdem Lunara schon geglaubt hatte, Andomeas hätte es sich anders überlegt, wollte ihre Hilfe nicht mehr, flatterte eine Fledermaus zum geöffneten Fenster herein. Sie flüsterte Lunara eine Botschaft zu, teilte ihr mit, dass Andomeas unweit ihres Häuschens eine alte, verfallene Burgruine bezogen hätte, in der kommenden Nacht ihren Besuch erwartete und sehr darauf hoffte, sie habe eine Lösung für sein Problem gefunden. Lunara gab der Fledermaus die Antwort mit auf dem Weg, sie werde in der folgenden Nacht zur alten Burgruine kommen.
Kaum jedoch war die Fledermaus zum Fenster hinaus begann Lunara die Sorge um Leander zu quälen. Wissen durfte er von diesem Treffen mit einem Vampir auf keinen Fall. Ihr würde gar nichts anderes übrig bleiben, als ihn mit einem Täuschungszauber zu belegen, der in blind machen würde für all ihre Aktivitäten, die mit Andomeas zusammen hingen. Der Gedanke daran raubte ihr den Schlaf, sodass sie aufstand und noch in der Nacht einen entsprechenden Trank zusammen braute. Regelmäßig unauffällig unter Leanders Nahrung gemischt würde er die gewünschte Wirkung tun. Jedenfalls hoffte Lunara dies inbrünstig, ebenso, dass kein unerwarteter Zufall ihr geheimes Tun dennoch ans Licht bringen würde.
Den kommenden Tag verbrachte sie ganz damit, einen Trank für Andomeas zu brauen. Sie wusste selbst nicht, wie sie es fertig brachte, bei dieser geheimen Tätigkeit so normal zu tun, als würde sie nur das Mittagessen zubereiten. Seufzend blickte und lauschte sie immer wieder nach draußen, wo Leander mit Canis und Lupus im Garten werkeltet. Ihr Mann, ihre Söhne und sie durften nie erfahren, was Lunara gerade tat. Kaum konnte sie den Einbruch der Nacht erwarten, als endlich alle in ihren Betten lagen und schliefen. Schnell raffte sie die Phiolen zusammen, in welchen sie den Trank abgefüllt hatte, ergriff ihren Besen um zur Burgruine zu fliegen.
Zunächst war von Andomeas keine Spur, bis er urplötzlich wie bei ihrer ersten Begegnung scheinbar aus dem Nichts kommend neben ihr stand. Lunaras Herz machte einen Satz, und dies keineswegs vor Schreck. Im Nu war sie wieder ganz und gar im Bann seiner überirdisch schönen Erscheinung. Besonders als er mit seiner samtigen, singenden Stimme zu ihr sprach: „Ich grüße dich, Hexe. Und ich hoffe, du hast gute Neuigkeiten für mich.“
„Die habe ich.“ Sie reichte ihm die Phiolen mit den Worten: „Einfach war es nicht, einen passenden Zauber zu finden. Es scheint, dass nicht allzu viele Vampire von ihrem Blutdurst geheilt werden wollen. Aber dieser Trank dürfte die gewünschte Wirkung haben.“
Er öffnete eine der Phiolen, beroch ihren Inhalt bevor er ihn mit einem zufriedenen Nicken austrank.
„Leider weiß ich nicht, wie schnell die Wirkung einsetzt und wie lange sie anhält“, bemerkte Lunara. „Du wirst immer wieder regelmäßig Nachschub brauchen.“
„Sage mir doch, was schulde ich dir, für diesen großen Dienst, den du mir erweist?“
„Oh, darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Die Menschen, die gelegentlich zu mir kommen, meine Hilfe erbitten, geben mir meist als Lohn was sie an Lebensmitteln, Stoffen für Kleider und ähnlichem entbehren können. Manche zahlen mir auch an Geld, was ihnen meine Hilfe wert ist. Verlangen tue ich nie etwas. Jeder gibt mir, was er für angemessen hält. Wer nichts erübrigen kann, dem helfe ich auch einfach so.“
„Hm, ich könnte dir zweifellos Gold und andere Kostbarkeiten zum Dank besorgen. Oder seltenen Zutaten für deine Tränke, nur…“
„ … würde sich Leander vermutlich wundern, woher diese plötzliche Fülle kommt. Die Menschen hier in der Gegend sind alle nicht mit irdischen Reichtümern gesegnet und es kommen auch nur wenige von ihnen je zu mir. Wenn du mir jedoch …“ An dieser Stelle brach sie verlegen ab, blickte zu Boden, spürte, wie sie tief errötete.
„Ja, was soll ich für dich tun?“
„Das Vergnügen, deine Gesellschaft zu genießen, wäre mir Lohn genug.“
„So sei es denn.“
Den Rest der Nacht verbrachten sie, indem sie gemeinsam durch den nächtlichen Wald spazierten, sich angeregt unterhielten. Und auch, wenn diesen Punkt keiner von ihnen ansprach, so war es doch beiden klar, dass eine ganz eigene Spannung zwischen ihnen war, ein Verstehen, ein Zugehörigkeitsgefühl, als wären sie schon seit Jahren innige Vertraute. Sie blieben zusammen fast bis das erste Morgenrot am Himmel erschien. Dann erst nahmen sie herzlich voneinander Abschied und Lunara flog eilends auf ihrem Besen zurück nach Hause.

Zurück in ihrem gewohnten Leben vermochte Lunara kaum, ihre Verwirrung zu verbergen. Es verwunderte sie, dass niemandem etwas an ihr aufzufallen schien. Also hatte der Trank, den sie Leander verabreicht hatte, wohl die erwartete Wirkung. Wieder und wieder überdachte Lunara alles, was sie in der vergangenen Nacht mit Andomeas erlebt hatte. Nein, es war nichts passiert, was sie sich vorwerfen musste. Sie hatten sich nur unterhalten, wie gute Freunde, wie sich liebevoll zugetane Geschwister. Dennoch gab es kein Vorbei an der Tatsache, dass eine ganz besondere Macht von Lunara Besitz ergriffen hatte. Eine Macht, die keine Hexe, kein Zauberer, überhaupt kein lebendes, fühlendes Wesen zu besiegen vermochte. Die Macht der Liebe.
„Wie kann das nur sein?“, fragte sich Lunara verzweifelt. „Du wolltest nichts weiter, als Andomeas helfen. Und du hast deinen Leander, eure wunderbaren Söhne. Was tust du nur? Und was willst du von diesem Vampir? Willst du Leander wirklich so hintergehen, dich mit seinem Todfeind einlassen?“
Ihr Leben schien sich wieder zu normalisieren. Lange Zeit hörte sie nichts von Andomeas, was sie gleichermaßen erleichterte wie es sie zur Verzweiflung trieb. In weiser Voraussicht hatte sie stets einen Vorrat an Zaubertrank. Sowohl von dem Täuschungszauber für Leander als auch von dem Trank für Andomeas. Dieser ließ nur selten und unregelmäßig von sich hören. Oft wusste sie tage-, wochen-, monatelang nicht, wo er sich aufhielt, was er tat. Dann jedoch kam des Nachts wieder eine Fledermaus von ihm, mit der Botschaft, dass er sie zu treffen wünschte. Und jedes Mal machte sie es möglich, sich davon zu stehlen, ihm seinen Zaubertrank zu bringen, die Nacht mit ihm zu verbringen. Dabei blieb alles harmlos zwischen ihnen, so harmlos, wie es unter den gegebenen Umständen nur sein konnte.
Mitunter hörte Lunara so lange nichts von Andomeas, dass sie sich fragte, ob er nicht nur in ihrer Fantasie existierte und sich, Dank ihrer Zauberkraft, gelegentlich materialisierte, zu einem greifbaren Geschöpf wurde, nur um sich nach einiger Zeit wieder in Nichts aufzulösen, in den Tiefen ihrer Fantasie zu verschwinden, bis zum nächsten Mal. In der Zeit zwischen den seltenen Treffen widmete sich Lunara mit aller Liebe und Fürsorge ihrer Familie, permanent von dem kleinen schlechten Gewissen im Hinterkopf verfolgt.

Die vergleichsweise harmlose Beziehung zu Andomeas sollte sich durch ein dummes Missgeschick jedoch schlagartig ändern. Wieder einmal war Lunara im Geheimen dabei, seinen Trank für ihn zu brauen, als überraschend Leander herein kam. Lunara erschrak so sehr, dass sie sich in den Finger schnitt und – ohne dass sie es bemerkt hätte – ein Tropfen ihres Blutes in den Zaubertrank geriet. Noch in derselben Nacht flog sie zu ihm, überreichte ihm die Phiolen wie gewohnt. Er entkorkte die erste, schnupperte genüsslich daran.
„Hmmmm, wie es scheint hast du die Rezeptur etwas abgeändert. Dieser Trank duftet ungewohnt berauschend.“
„Oh nein“, beeilte sich Lunara zu versichern, „ich habe rein gar nichts daran geändert. Überzeug dich selbst, es ist alles wie immer.“
Er stürzte den Inhalt der Phiole hinunter und kurz darauf nahm sein Gesicht einen ganz eigentümlichen Ausdruck an. Langsam trat er auf sie zu, zog sie zu sich heran.
„Hexe, bezaubert hast du mich schon vom ersten Augenblick an. Aber so sehr, so sehr wie heute, noch nie zuvor.“
Leidenschaftlich begann er sie zu küssen und Lunara, die sich insgeheim schon lange danach gesehnt hatte, viel mehr von ihm zu bekommen, erwiderte seine Küsse. In dieser Nacht gab sie sich ihm zum ersten Mal ganz hin.

Fortan lebte sie mehr denn je zwei völlig verschiedene Leben. Ihr altes, vertrautest Leben mit Leander und den Söhnen und ihr neues, wildes, verschwiegenes Leben in den wenigen, leidenschaftlichen Stunden mit Andomeas. Und stets aufs Neue musste sie erkennen, dass die Liebe stärker war als jede Hexenkunst. Vergeblich versuchte sie sich an Entliebungszaubern, für sich selbst, für Andomeas, die jedoch samt und sonders scheiterten. Ihre Leidenschaft für-einander war stärker als alles, was in den Hexenbüchern zu finden war. So blieb ihr weiterhin nichts anderes übrig, als den Täuschungszauber für Leander aufrecht zu erhalten, in der Zeit, die sie ohne Andomeas mit ihrer Familie verbrachte so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung.

Leider endet die Geschichte an dieser Stelle. Die alten Überlieferungen sagen nichts darüber, ob oder wie es Lunara je gelungen ist, dieses Problem zu lösen, gleichermaßen ihren Werwolf und ihren Vampir zu lieben, keinen von beiden aufgeben zu wollen, zu können und die beiden, die niemals Freunde werden können, voneinander fern zu halten. Doch Liebe findet immer einen Weg.