Die Würde der Muschel ist unantastbar
(11.05.08)

Ich weiß nicht, ob das, was ich hier grad anfange zu schreiben, die Bezeichnung Geschichte verdient. Auf jeden Fall ist es ein Erlebnis, welches mir schon die ganze Zeit im Kopf rum geht, mir keine Ruhe lässt. Und wie immer in so einem Fall hilft nur eins, schreiben.
Wir haben Mitte Mai und es ist schon seit ein paar Tagen fast hochsommerlich warm. Jetzt noch das schöne, lange Pfingstwochenende. Grund genug, zum ersten Mal in diesem Jahr mit den Kindern an den Hiller See zu fahren. Wir sind nicht die einzigen, die sich von der Sonne an den See locken lassen. Der Wind ist doch recht frisch, auch in das noch reichlich kühle Wasser taste ich mich zunächst nur langsam und zögerlich vor. Dann habe ich mich daran gewöhnt und genieße es zu schwimmen, mit den Kindern zu spielen oder einfach nur entspannt auf unserer Decke zu liegen. Tiere gibt es reichlich zu beobachten. Jede Menge Gänse mit ihren Jungen, Kaulquappen und überraschend viele Teichmuscheln. Klar, dass besonders die Kaulquappen und die Muscheln von Interesse für die Kinder sind – nicht nur für meine. Ich habe auch überhaupt kein Problem damit, dass ein Vater mit seinem Sohn sowohl Kaulquappen als auch Muscheln für den heimischen Gartenteich in einem Eimer mitnimmt. Dieses mit dem sorgfältigen Hinweis an den Sohn, die Muscheln besser erst ganz kurz vor der Heimfahrt zu holen, weil denen sonst im Eimer zu heiß wird.
Gebe ja zu, ich würde mir, wäre ich im Besitz eines Gartenteichs, sicher auch von überall und nirgends her die Bewohner dafür mitnehmen. Meinem Jüngsten rede ich es glücklich aus, unbedingt unserer Nachbarin eine Muschel für ihr Aquarium mitnehmen zu wollen.

Wie gesagt, wir genießen den Tag, bis ich an einen Zeitgenossen gerate, mit dem ich aneinander gerate. Anlass dafür war eine der besagten Muscheln. Mein Jüngster und der Sohn des anderen spielen am Ufer im Sand, jeder mit einer Muschel. Ich denke gar nicht weiter drüber nach, nehme beiden entschlossen die Muscheln ab mit dem Hinweis, dass es sich nicht um Spielzeug handelt sondern um Lebewesen. Kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich die Muschel in einem Sandförmchen oder in einem in den Sand gegrabenen Loch wohl fühlt und habe auch keine Ahnung, wie lange sie das überleben kann. Ich begebe mich mit den beiden Geretteten zu dem Bereich des Sees, der allein der Natur gehört, wo schwimmen nicht erlaubt ist und werfe sie so weit hinaus ins Wasser, dass sie so schnell bestimmt nicht ans Ufer zurückkommen können.
Ich stehe noch im Wasser als mich von Ufer her jemand anruft: „Hallo!“ Noch recht jung der Typ, rote Badeshorts, dunkles Haar. Nachdem klar wird, dass der mich meint, frage ich, was er denn will.
„Haben Sie meinem Sohn seine Muschel weggenommen?“
Ich bejahe und erkläre ihm auch gleich den Grund für mein Verhalten. Damit ist der gar nicht einverstanden. Ich sage ihm, er soll halt selbst aufpassen, was sein Kind macht und ihm erklären, warum das nicht korrekt ist. Darauf er: „Und was ist mit den Ameisen, den Mücken, den „was auch immer er sich da jetzt ausdenkt“? Soll ich da auch jedes Mal hinterher sein und sagen: Guck mal hier, die Ameise! Guck mal da!“
Wäre ja grundsätzlich nicht verkehrt, den Kindern mal ein bisschen Achtung vor der Natur, vor allem, was da sonst noch kreucht und fleucht beizubringen. Mit einer Ausnahme, Mücken fallen für mich in die Kategorie Schädlinge und werden gnadenlos platt gemacht. Leider, wie so oft, fallen mir die schlagfertigen Antworten erst viel zu spät ein. Hab auch ganz ehrlich keine Lust, mich rum zu streiten. Wenn er sich aufregen will, bitte, darauf muss ich ja nicht anspringen. Er motzt noch eine Weile weiter, dass ich das wohl kaum allein für alle entscheiden kann, was jetzt richtig ist und beharrt auf seinem Standpunkt, dass ich seinem Kind sein „Spielzeug“ weggenommen hab. Nach einem letzten: „Ist das klar?“, worauf er von mir keine Antwort bekommt, verzieht er sich hin zu seiner Familie. Mann, der soll lieber froh sein, dass er nicht an einen radikalen Tierschützer geraten ist. Der wäre sicher nicht so friedlich geblieben wie ich!

Oh weh, da hab ich – bei allem Wohlmeinen für die Muschel, die ja weder kratzen noch beißen oder gar weglaufen kann, wenn es ihr zu bunt wird – bei dem armen Jungen wohl einiges angerichtet. Beobachte von weitem, wie der Kleine auf Papas Arm getröstet wird und – war das jetzt meinetwegen? – die Familie sich auch ziemlich schnell zum Aufbruch rüstet.

Sinniere später noch darüber nach, ob besagter Papa wohl zu denen gehört, die einen Igel oder sonstiges Getier auf der Straße extra noch überfahren, selbst wenn Ausweichen gefahrlos möglich wäre – weil es ja nur ein Tier und das ganze ein herrlicher Sport ist? Oder ob es für ihn okay wäre, würde ich Zeuge, wie sein Sohn in eine missliche Lage gerät, aus der er allein nicht heraus kommt, und ich würde mir dann sagen, dass es mich nichts angeht und ich nicht entscheiden kann, ob das, was da grad passiert, richtig oder falsch ist.

Jetzt muss ich mit der schweren Bürde klarkommen, im schlimmsten Fall ein unschuldiges Kleinkind womöglich so schwer traumatisiert zu haben, dass es mit 80 noch darunter leiden wird oder im günstigsten Fall ihm und seiner Familie diesen herrlichen, sonnigen Tag gründlich verdorben zu haben. Aber deswegen werde ich sicher nicht schlechter schlafen heute Nacht. Denn die Würde der Muschel ist unantastbar!