Ohrensausen
(Komödie, Aufgabe der Schreibwerkstatt vom 05.10.2006)

Herr Meier war ein pedantischer, älterer Herr. Alles musste bei ihm seine peinliche Ordnung haben. Früher, als er noch im Berufsleben stand, hatte er mit seiner Pingeligkeit die Kollegen oft genug zum Augenverdrehen und gequält aufseufzen gebracht. Seit seiner Pensionierung verlegte er seinen Ordnungssinn auf häusliche Angelegenheiten. Ständig putzte und räumte er seiner Frau hinterher, die in seinen Augen einfach nicht gründlich genug war und so manches Stäubchen oder Fleckchen, machen am falschen Platz liegenden Gegenstand einfach übersah. Seine besondere Leidenschaft galt seinem Garten. Jedes noch so kleine Unkrautpflänzchen wurde gnadenlos ausgemerzt, jedem Schädling mit der Giftspritze zuleibe gerückt. Die Bäume und Hecken waren akkurat beschnitten und der Rasen, ja, der Rasen, auf den hätte jeder Golfclub stolz sein können. Mindestens jeden 2. Tag widmete sich Herr Meier der Rasenpflege, holte den Rasenmäher aus der Garage, ließ den Motor an und schob den gleichmäßig brummenden Mäher zufrieden vor sich her. Seinen Mitmenschen ging Herr Meier mit diesem übertriebenen Hang zum Rasenmähen gehörig auf die Nerven. Die Nachbarn hatten sich schon manches Mal über das stete Gebrumm zu den unmöglichsten Zeiten beschwert. Frau Meier hatte schon lange aufgegeben, ihren Mann davon zu überzeugen, wie viel schöner doch ein etwas verwilderter Naturgarten wäre. Und die Enkelkinder erst! Oh nein, sie durften es nicht wagen, auf dem liebevoll gepflegten Rasen etwa Fußball zu spielen, ihre Zelte aufzubauen, gar Gartenpartys zu feiern. Das war aufs Strengste untersagt. Noch ahnte Herr Meier nicht, dass der Tag kommen würde, an dem er seinen Rasenmäher und dessen gleichmäßiges Gebrumm noch verfluchen würde.

Es fing alles ganz harmlos an. Wie so oft hatte Herr Meier den Rasenmäher herausgeholt und zog damit seine Bahnen. Er war fertig mit der Arbeit, begutachtete zufrieden sein Werk, stellte den Rasenmäher sorgfältig gereinigt an seinen Platz zurück, setzte sich in einen Liegestuhl auf der Terrasse um sich nochmals an seinem Werk zu erfreuen. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er noch immer das Brummen des Rasenmähers vernahm, leise aber deutlich. Zunächst glaubte er, einer der faulen Nachbarn, die ihren Rasen stets ins Uferlose wuchern ließen, hätte sich endlich an ihm ein leuchtendes Beispiel genommen. Aber nein, so sehr er auch umherspähte, keiner seiner Nachbarn war im Garten tätig. Das Geräusch musste also eine andere Ursache haben. Sorgfältig inspizierte Herr Meier sämtliche Elektrogeräte im ganzen Haus. Der Kühlschrank? Nein, der klang ganz anders! Vielleicht das Radio? Auch nicht. Der Fernseher? Er suchte und suchte, kam doch des Rätsels Lösung keinen Schritt näher. Und das Brummen in seinen Ohren ließ sich einfach nicht abschalten.

Spät am Abend kam Frau Meier nach Hause, die bei ihrem üblichen Damenkaffeekränzchen gewesen war. Statt sich wie sonst darüber aufzuregen, wieso nur die Damen so viele Stunden damit vertrödelten, über alles und jeden zu klatschen, sich dabei mit Unmengen ungesunder Kalorien voll zu stopfen nahm Herr Meier seine Frau beiseite und fragte: „Jetzt sag mir bitte, hörst du das auch?“

„Was denn?“, fragte Frau Meier höchst erstaunt.

„Na dieses Brrrrrmmm, Brrrrrrmmmm, Brrrrrrmmmmm, du weißt schon, was der Rasenmäher macht.“

„Tut mir Leid, aber ich höre keinen Rasenmäher, nur den Abendgesang der Vögel.“

„Hm, aber was kann das dann bloß sein? Seit ich vor ein paar Stunden den Rasen gemäht habe, geht mir dieses Gebrumm nicht mehr aus den Ohren.“

„Wahrscheinlich hast du es einfach nur mit der Arbeit übertrieben. Jetzt trinkst du noch ein schönes Bier, nimmst ein heißes Bad und gehst früh zu Bett.“

Normaler Weise hätte sich Herr Meier dieser mütterlichen Fürsorge seiner Frau widersetzt, diesmal jedoch tat er ohne Protest, was sie ihm vorgeschlagen hatte. Allein an Schlaf war nicht zu denken. Bis ins Bett verfolgte ihn das Brummen und die halbe Nacht wälzte sich Herr Meier schlaflos hin und her.

Am nächsten Morgen war es keineswegs besser. Mochte es um ihn herum laut oder leise sein, das Brummen blieb. Auf dringendes Anraten seiner Frau konsultierte Herr Meier seinen langjährigen Hausarzt. Dieser untersuchte ihn gründlich, konnte jedoch nichts feststellen. Auch verschiedene Spezialisten, die Herr Meier aufsuchte, waren ihm keine Hilfe.

So wurde er immer missmutiger. Sein bisheriger Arbeitseifer und Ordnungssinn schien ihm auf einmal egal zu sein. Seine Frau hätte damit ganz zufrieden sein können, stellte sich doch so nach und nach im Haus und Garten das ein, was sie eine gemütliche Unordnung nannte, oder einfacher, Wohnlichkeit. Wäre ihr Gatte nur nicht so brummig gewesen wie das Geräusch in seinen Ohren. Die meiste Zeit saß Herr Meier jetzt reglos in seinem Liegestuhl und starrte auf den einst so gepflegten Garten, der inzwischen eher dem Wunsch seiner Frau nach einem Naturgarten entsprach. Dieses unaufhörliche Brummen raubte ihm einfach jede Antriebskraft.

Eines Tages jedoch, nach langer Zeit waren wieder einmal Tochter und Schwiegersohn mit den Kindern zu Besuch, passierte das Unerwartete. Der kleine Peter tobte mit seinem bunten Ball durch den Garten – was er sich früher nie hätte erlauben dürfen – und auf einmal landete dieser direkt auf dem Schoß von Opa Meier. Peter rannte auf den Opa zu, rief dabei fröhlich: „Komm, Opa, spiel mit mir!“

Herr Meier hätte selbst nicht sagen können, was ihn dazu bewog, der Aufforderung des Kleinen zum gemeinsamen Spiel nachzukommen. War es der Ärger über seine eigene Untätigkeit, sein Selbstmitleid der letzten Wochen? Erinnerte er sich plötzlich an seine eigenen Kindertage? Oder wurde ihm zum ersten Mal in seinem Leben bewusst, dass Kinder nicht nur ungehorsame, quengelnde Nervensägen waren sondern liebenswerte Geschöpfe, an denen man durchaus seine Freude haben konnte? Jedenfalls erhob er sich aus seinem Liegestuhl und in den nächsten Stunden erlebten Frau und Kinder ihn so ausgelassen wie nie zuvor. Er rannte kreuz und quer über den Rasen, kickte, warf und rollte den Ball mit Peter um die Wette bis beide völlig erschöpft waren.

Viel später, als Peter längst am Abendbrottisch eingeschlafen war und in der allgemeinen Unterhaltung eine Pause eintrat hob Herr Meier plötzlich lauschend den Kopf.

„Hört ihr das auch?“

„Was denn?“, fragte die Familie zurück.

„Na nichts! Gar nichts! Diese wunderbare Stille! Diese himmlische Ruhe!“

Auf ihre verwunderten Blicke hin erklärte er: „Das Brummen, das mich wochenlang verfolgt hat, es ist weg! Einfach weg!“ Er führte einen Freudentanz rund um den Esstisch auf, wie ihn noch niemand aus seiner Familie gesehen hatte.

Und von Stund an hatte Herr Meier eines begriffen, nämlich, dass man es mit der Arbeit und dem Ordnungssinn nicht übertreiben darf, sich stattdessen öfter an den schönen Dingen des Lebens erfreuen soll. Und daran hat er sich für den Rest seines Lebens, sehr zur Freude seiner Familie, gehalten.