Das Seemonster
(27.04.09, frei nach einer Hausaufgabe „Abenteuergeschichte“ von Sven)

Nacht lag über dem kleinen Küstenort. Hell strahlten die Sterne vom samtschwarzen Himmel. Wer zur rechten Zeit in den Himmel schaute, hätte später von einer Sternschnuppe gesprochen, die blitzschnell, einen hellen Schweif hinter sich herziehend, übers Firmament huschte und verglühte. Doch es war ganz und gar keine Sternschnuppe, was da spritzend im Meer landete, wegen des plötzlichen Temperaturunterschieds Risse bekam und langsam in der Tiefe versank.

Die Berichte häuften sich. Schiffsbesatzungen wollten „etwas“ gesehen haben, ebenso wie zahlreiche Taucher, die sich am Riff vor der Küste tummelten. Ein großes, dunkles, huschendes Etwas, das schneller wieder verschwand, als das menschliche Auge imstande war, Einzelheiten auszumachen. Ein Team aus Nachwuchsforschern brachte seinen neuesten, selbstkonstruierten Unterwasserroboter zum Einsatz, um diesem Etwas auf die Spur zu kommen. Tote, eindeutig angebissene Überreste von Fischen wurden an den Strand gespült. Und schnell war man sich einig, dass kein bekanntes Tier diese Fische getötet hatte. Bald machte das Gerücht die Runde: Ein Seemonster sollte vor der Küste sein Unwesen treiben.

Dimon hielt sich bewusst zurück. ZU neu und fremd war das alles noch für ihn. Aus den Tiefen des Universums, von einem Planeten, den die Menschen kaum jemals betreten würden, hatte ihn sein Weg hergeführt, seine Ein-Alien-Erkundungsmission. Der Transportweg war einfach, eingeschlossen in eine eiähnliche Transportkapsel, zuvor in eine Art Dämmerschlaf versetzt und einem Kometen gleich auf die Reise geschickt, nur unendlich viel schneller. Dann war er in diesem Meer gelandet. Ein Lebensraum wie für ihn maßgeschneidert, da auch auf seinem Heimatplaneten ein Großteil der Erdoberfläche vom Meer bedeckt war, Festland und Leben darauf eher eine Ausnahme darstellten. Es fiel Dimon nicht schwer, herauszufinden, dass die Menschen augenscheinlich die am weitesten entwickelte landlebende Spezies auf dieser Welt war. Die Menschen, die er beobachtete, belauschte, auf ihren Schiffen, während ihrer Tauchgänge, beim Schwimmen. Und alles, was die von ihm mitbekamen, war ein huschender Schatten, der längst im Nichts verschwunden war, bevor ihre verwunderten Augen begriffen, WAS sie da gesehen hatten. Auch, dass sie ihn für ein Monster hielten, hatte er schnell mitgekriegt. Neugierig war er darauf, mehr von ihnen zu erfahren. Nur wie er das an-stellen sollte, wusste er noch nicht. Dimon versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was ihn sein Ausbilder gelehrt hatte, bevor er diese Mission antrat. Seine Spezies verfügte über die Gabe der Formwandlung, welche hilfreich war, sich an unterschiedliche Lebensbedingungen anzupassen, unauffällig unter den dort lebenden Wesen zu sein. Leider war Dimon auf diesem Gebiet – Umwandlung und Anpassung – nie besonders gut gewesen. Hätten seine brillanten Leistungen in allen anderen Fächern seiner Ausbildung diesen Mangel nicht ausgeglichen, er wäre niemals für irgendeine Erkundungsmission ausgewählt worden.
Er musste es versuchen. Lange genug hatte er die Menschen beobachtet, ihren Körperbau, ihr Bewegungsmuster, ihre Art der Verständigung studiert. Freilich, dass sie Lungenatmer waren, DAS würde schwierig, so etwas nachzubilden, das Einatmen von Luft an Land dauerhaft durchzuhalten. Aber Dimon beschloss, sein Bestes zu geben. Wenn es misslang, dann blieb ihm immer noch der Rückzug ins Meer, die Rückverwandlung in seine ursprüngliche Gestalt.

Eva war an diesem Abend allein an den Strand gegangen. Sie brauchte einfach Ruhe und Zeit für sich. Alles nervte und nichts schien mehr glatt zu laufen in letzter Zeit. Ihr Freund, den sie für die ganz große Liebe gehalten hatte, hatte sich letztlich als unzuverlässiger Idiot erwiesen. An ihrem Arbeitsplatz, dem Strandkiosk, an welchem Erfrischungen und Souvenirs verkauft wurden, war seit den Gerüchten über das Auftauchen eines Seemonsters die Hölle los. Pfiffige Hersteller hatten die günstigen Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und allerlei Artikel rund um das vermeidliche Monster auf den Markt geschmissen, obwohl tatsächlich niemand genau wusste, WIE dieses letztlich aussah, häuften sich auch in ihrem Kiosk die T-Shirts, Tassen, Buttons und dergleichen mehr, welche ein Geschöpf darstellten, das irgendwo zwischen Muräne, Hai und Riesenkrake angesiedelt war, von jedem etwas und echt gruselig. Und Massen von blöden Touris zahlten einen Haufen Geld für den Mist. Eigentlich hätte Eva dies freuen müssen, sicherte es doch ihren Arbeitsplatz. Aber der ganze Rummel, kombiniert mit all dem Stress wegen ihres inzwischen Ex-Freundes, zerrte einfach nur an Evas Nerven. So war sie nach Feierabend zu ihrer abgelegenen „Privatbucht“ aufgebrochen, einem Teil des Strandes, an den sich üblicher Weise kein Tourist verirrte.
„Pass auf, dass das Monster dich nicht frisst!“, hatte ihre Kollegin zum Abschied gefrozzelt. „Huuuuuhhhhhuuuu, ich hab ja solche Angst“, hatte Eva nur lachend erwidert und sich auf den Weg gemacht. Niemand konnte ahnen, dass sie dem berühmten Seemonster in der Tat begegnen würde, nur ohne im Entferntesten zu ahnen, mit wem sie es zu tun hatte.

Dimon hatte seine Verwandlung fast abgeschlossen. Er hoffte, dass er den jungen menschlichen Mann überzeugend dargestellt hatte. Bewusst hatte er sich ins flache Wasser begeben und bekam bereits erste Schwierigkeiten. Verdammt, tat diese Luft in seinen neu ausgebildeten Lungen weh! Jeder Atemzug war eine Qual. Und noch quälender war es, aus Versehen Wasser in diese verwünschten Lungen zu bekommen. Dimon würgte, hustete und spuckte. Wie hielten die Menschen das nur aus in so einem unbequemen Körper? Er hatte Mühe, den seinen unter Kontrolle zu bekommen. Er torkelte durchs immer flacher werdende Wasser Richtung Strand. Eine weitere Schwierigkeit wurde ihm in diesem Moment bewusst. Menschen liefen üblicher Weise nicht unbekleidet durch die Gegend. Selbst wenn sie nur eine Badehose trugen, vollständig nackt waren sie selten. Wie aber konnte er sich Kleidung besorgen? Erschöpft ließ er sich am Strand auf die Knie sinken, tat weitere schmerzende Atemzüge. Mist! Unter Wasser, in seinem eigenen Körper, bewegte er sich schnell und geschmeidig wie kaum einer. So hilflos wie jetzt in diesem Augenblick hatte er sich nie gefühlt. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass er nicht allein war. Ein Mensch war dort am Strand, ein offensichtlich weiblicher Mensch. Und dieser Mensch kam direkt auf ihn zu.

Aufs äußerste angespannt machte sich Dimon darauf gefasst, jederzeit ins Meer zu fliehen, seinen Körper schleunigst zurück zu verwandeln. Dann war der Mensch bei ihm, beugte sich über ihn, legte eine Hand auf seine Schulter.
„Alles okay mit Ihnen?“, klang die Stimme ungewohnt in seinen nunmehr menschlichen Ohren.
Es dauerte eine Weile, bevor er den Sinn dieser Frage begriff und noch länger, ehe er mit seinen neuen, unvertrauten Stimmbändern die heisere Antwort: „Ich … weiß … nicht“, herausgepresst hatte.
„Was ist denn passiert?“, fragte die Unbekannte, versuchte, ihm beim Aufstehen behilflich zu sein. „Sind sie verletzt? Brauchen Sie einen Arzt?“
Fragen, deren Bedeutung nur langsam in sein Gehirn sickerte. Das erste, was er ganz bewusst dachte: „Sie scheint nicht zu merken, dass ich gar kein Mensch bin.“ Und kurz darauf: „Es stört sie anscheinend auch nicht, dass ich nackt bin.“
Resolut führte sie ihn ein Stück den Strand hinauf, brachte ihn dann dazu, sich auf einer dort ausgebreiteten Decke hinzusetzen. Kurz darauf hatte sie ihm ihre Jacke um die Schultern gelegt. Noch immer dieses besorgte Mustern und schon die nächste Frage: „Geht’s wieder besser?“ Er nickte nur schwach und verwirrt.
„Ich heiße übrigens Eva, und Sie?“
„Di … mon“, krächzte er heiser.
„Hier“, sie schraubte ihre Thermokanne auf, goss etwas Kaffee in den Becher und hielt ihn Dimon hin. „Kaffee, heiß, stark und süß. Der bringt sie wieder auf die Beine.“
Zögernd nahm Dimon den Becher, beobachtete den kräuselnden Dampf, der von ihm aufstieg, schnupperte mit seiner neuen Nase, die ihm äußerst unzulänglich erschien.
„Nun trinken Sie schon“, ermunterte ihn Eva.
Vorsichtig nippte Dimon, nur um kurz darauf erneut zu würgen und zu husten. Mit diesem blöden, neuen Körper musste er anscheinend sogar die Nahrungsaufnahme völlig neu erlernen. Eva klopfte ihm auf den Rücken bis sein Husten aufhörte. Tapfer versuchte Dimon erneut einen Schluck. Der Kaffee schmeckte anders als alles, was er je in seinem Leben probiert hatte und übte eine merkwürdig belebende Wirkung auf seinen Körper aus. Beinahe schon normal konnte er seinerseits die Fragen aussprechen: „Was soll ich jetzt tun? Wo soll ich hin?“
„Wo kommen Sie denn her?“
„Ich … kann es nicht genau sagen.“
Eva war sich sicher, dass dieser offensichtlich verwirrte Unbekannte irgendeinen Unfall gehabt haben musste. Zwar war er augenscheinlich nicht verletzt, dennoch stimmte mit ihm etwas nicht. Gefährlich schien er jedoch nicht zu sein.
„Ich nehme Sie erst mal mit nach Hause. Ruhen Sie sich aus, schlafen erst mal richtig. Morgen sehen wir weiter.“
Geschickt schlang sie die Decke um ihn, um seine Blöße zu bedenken, packte ihre restlichen Sachen zusammen. Stolpernd und unsicher auf seinen ungewohnten Beinen folgte er ihr. Der Weg schien ihm unendlich weit, ihm, der unter Wasser weiteste Strecken innerhalb kürzester Zeit ohne jedes Anzeichen von Erschöpfung zurück legte. Wahrscheinlich musste man in so einem Körper geboren sein um sich darin wohlfühlen zu können. Und noch immer musste er mühsam um jeden Atemzug kämpfen. Gerade als er kurz davor war, tatsächlich um eine Verschnaufpause zu bitten, verkündete Eva: „So, da wären wir. Aber pssst, mein Vater schläft bestimmt schon.“ Sie lotste ihn ins Wohnzimmer. Mit einigen Kissen und Decken richtete sie das Sofa zum Schlafen her, reichte ihm auch ein langes Shirt mit den Worten: „Hier, das ist von meinem Vater. Für heute Nacht dürfte es reichen. Morgen suche ich Ihnen noch ein paar passende Sachen raus. Haben Sie Hunger?“
Hunger? Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sich sein Magen grässlich leer anfühlte und dass ihn die Verwandlung so viel Energie gekostet hatte, dass eine Nahrungsaufnahme jetzt sicher kein Fehler wäre. Wieder nickte er einfach. Mit einem: „Bin gleich wieder da!“, verschwand Eva in der Küche.

Während Eva in der Küche Brote schmierte, Saft und Gläser auf ein Tablett stellte, versuchte sie, sich wieder zu sammeln. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, diesen gänzlich unbekannten Mann einfach mit nach Hause zu schleppen? War es nur sein verwirrter Zustand, der ihr Mitleid wach rief? Sie hätte ihn genau so gut auf dem Polizeirevier abliefern können und es den Beamten überlassen können, sich um ihn zu kümmern, herauszufinden, wer er war und was mit ihm passiert war. Oder ließ sie sich von seinem unnatürlich guten Aussehen blenden? Groß, kräftig, dass blonde Haar ebenso wirr wie sein emotionaler Zustand, dazu graue Augen mit einem Stich Bernsteingelb, die so merkwürdig verloren dreinblickten.
„Eva, Eva, du bist grad erst einen Typen los geworden, der dir fast das Herz gebrochen hat. Willst du dich gleich wieder auf diesen Zirkus einlassen?“
Seufzend nahm sie das Tablett auf, begab sich zu ihrem neuen Schützling zurück. Das Tablett vor ihn auf den Tisch stellend, sich neben ihn setzend, sagte sie: „Dann mal guten Appetit. Ich esse auch noch eine Kleinigkeit. So ein nächtlicher Ausflug macht hungrig.“
Er sah ihr zu, wie sie ein Brot in die Hand nahm und herzhaft hineinbiss. Zaghaft griff er ebenfalls zu, wage nicht, allzu auffällig an der unbekannten Nahrung zu schnuppern, biss zögernd einen winzigen Happen ab, kaute sehr sorgfältig. Schien okay zu sein. Und wenn die Menschen so etwas aßen würde es ihm schon nicht schaden. Dann übermannte ihn der Hunger und er langte zu, bis nichts mehr da war. Eva brachte das nunmehr leere Tablett in die Küche zurück. Dann war sie wieder bei ihm, deckte ihn zu, als wäre er ein Kind, löschte das Licht. Mit einem: „Schlafen Sie gut“, hatte sie den Raum verlassen.

Trotz seiner Erschöpfung konnte Dimon noch lange nicht einschlafen. Dieser neue Zustand und diese Eva, ja, vor allem Eva, ließen seine Gedanken nicht zur Ruhe kommen. So viel er auch bereits von den Menschen mitbekommen hatte, Eva war … anders. Noch konnte Dimon dieses merkwürdige Gefühl, dass sie in ihm auslöste, nicht zuordnen. Hätte er es gekonnt, wäre er zu dem eindeutigen Schluss gekommen: „Ich bin verliebt!“
Eva ging es nicht anders. Auch sie lag noch lange wach in ihrem Bett, ihre Gedanken kreisten um ihr seltsames Findelkind. „Morgen“, sagte sie sich, „morgen, wenn er ausgeruht ist, erfahre ich hoffentlich mehr von ihm. Und Vater? Was wird er davon halten?“ Mit diesem Gedanken driftete sie endlich in einen von unruhigen Träumen bewegten Schlaf.

Am nächsten Morgen wurde Dimon von Geräuschen und Gerüchen aus der Küche geweckt. Evas Stimme, registrierte er, und eine eindeutig männliche Stimme. Der Vater, von dem sie gestern gesprochen hatte? Der bereits schlief und nicht geweckt werden sollte. Und diese Düfte, die in seine Nase wehten! Einen davon identifizierte er eindeutig als Kaffee, dieses merkwürdige, warme, bittersüße, belebende Getränk, welches Eva ihm gestern am Strand angeboten hatte. Die anderen Aromen, Rührei mit Speck und frische Brötchen, kannte er nicht. Sie bewirkten jedoch einen heftigen Speichelfluss und unüberhörbares Magenknurren bei seinem noch immer ungewohnten Körper. Eva betrat das Wohnzimmer.
„Ah, guten Morgen! Sie sind schon wach! Wie fühlen Sie sich?“
„Gut, glaube ich, und hungrig.“
„Frühstück ist gleich fertig, warten Sie einen Moment, ich bringe Ihnen eben was zum Anziehen.“
Flink wieselte sie wieder aus dem Wohnzimmer, kam kurz darauf mit einem Stapel Kleidung zurück. „Die Klamotten hat mein Ex hier vergessen. Wollte den Kram schon in den Altkleidercontainer schmeißen. Sie dürften etwa seine Größe haben. Probieren Sie mal.“ Schon war sie wieder verschwunden und ließ Dimon mit einem nicht unerheblichen Problem zurück. Es war eine Sache zu sehen, wie die Menschen angezogen waren, eine ganz andere, sich mit einem Haufen unbekannter Kleidungsstücke selbst daran zu versuchen. Langsam und ungeschickt zerrte Dimon an den Sachen, hoffte inbrünstig, nichts verkehrt zu machen. Er konnte doch nicht um Hilfe beim anziehen bitten! Eng und unbequem, war sein Empfinden, als er sich endlich – und richtig, wie er hoffte – in Unterwäsche, T-Shirt, Jeans, Socken und Schuhe gequält hatte. Einmal mehr fragte er sich, wie die Menschen nur diese Körper aushielten, dazu noch diese unpraktischen Hüllen. Zögernd betrat er die Küche und traf dort einen älteren Mann an, der geschäftig am Herd hantierte. Eva war ebenfalls da, stellte soeben Teller und Tassen auf den Tisch. Mit einem Blick auf Dimon bemerkte sie: „Steht dir eindeutig besser als Claude. Setz dich doch schon mal.“ Ganz unbewusst war sie zum Du übergegangen.
„Papa, das ist übrigens Dimon, den ich gestern am Strand aufgelesen habe.“
Abschätzend mustere der alte Mann Dimon, stellte sich schließlich als Gunther vor.

Das Frühstück verlief nahezu schweigend, bis Gunther auf einmal direkt fragte: „Können Sie sich heute vielleicht daran erinnern, was Sie gestern am Strand gemacht haben? Wenn ich jemanden in meinem Haus aufnehme, wüsste ich schon gern ein bisschen mehr über ihn.“
„Ich … es tut mir leid, aber ich weiß wirklich nicht …“, stammelte Dimon hilflos.
„Papa, jetzt lass ihn doch!“, unterbrach Eva. Mit besonderem Unterton fügte sie noch hinzu: „Gerade du müsstest doch am besten wissen, wie es ist, eine vorübergehende Amnesie zu haben.“
„Schon gut, schon gut“, brummelte Gunther. „Aber dann sollte er sich besser mal von einem Arzt durchchecken lassen.“
Nach dem Frühstück verkündete Eva: „Ich geh jetzt los, den Kiosk aufsperren. Was ist Dimon, kommst du mit?“
Bereitwillig machte er sich mit ihr auf den Weg. Unterwegs erzählte sie: „Du darfst es Papa nicht verübeln, dass er so kauzig ist. Er ist sein Leben lang zur See gefahren. Und ausgerechnet auf einem seiner seltenen Festlandsaufenthalte hatte er diesen Unfall. Er war mit Mama im Auto unterwegs und …“ Sie brach ab, es dauerte einige Zeit, bis sie in der Lage war, weiter zu sprechen, leise und traurig. „Mama hat diesen Unfall … nicht überlebt. Und Papa konnte sich, als er im Krankenhaus wieder aufgewacht ist, lange Zeit an nichts erinnern. Er hasst sich selbst dafür, dass er nicht besser aufgepasst hat, obwohl der Unfall gar nicht seine Schuld war. Und er hasst sich dafür, dass er seitdem ein Krüppel ist. Äußerlich sieht man ihm kaum etwas an, außer dass er stark hinkt. Aber ich weiß, was er oft für Schmerzen hat. Zur See kann er nicht mehr fahren, aber das Rentnerdasein ist auch noch nichts für ihn. Darum hat er den Strandkiosk übernommen, als der zum Verkauf stand. Ich kümmere mich zusammen mit meiner Kollegin Jenny um den Verkauf, er erledigt den gesamten Schrift- und Buchhaltungskram. Papa pflegt immer zu sagen: Ich bin zwar verkrüppelt, aber nicht verkalkt. Und ich kann immer noch lesen, schreiben, rechnen und telefonieren, wenn ich sonst schon zu nichts mehr nütze bin.“
Über diesem Bericht waren sie am Kiosk angekommen. Dimon fühlte sich seltsam betroffen. Da wurde er mit einem menschlichen Schicksal konfrontiert, einem sehr schweren menschlichen Schicksal und wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Das alles war ihm so fremd. Sicher gab es auch in seiner Heimat Unglücksfälle, aber nicht so, auf diese Art.

Eva war bereits routiniert zur Tagesordnung übergegangen und bezog Dimon einfach mit in ihre Arbeit ein, wies in an, verschiedene Waren in die Regale und Verkaufsständer zu sortieren. Dimon kam sich noch immer reichlich ungeschickt vor, während er versuchte, ihre Anweisungen so gut wie möglich umzusetzen. Mit einem fröhlichen: „Guten Morgen allerseits!“, trat eine weitere junge Frau auf den Plan. Eva machte bekannt: „Jenny – Dimon, Dimon – Jenny!“ Jenny musterte Dimon mit glänzenden Augen von oben bis unter, konnte nur mit Mühe einen anerkennenden Pfiff unterdrücken, zog Eva im nächsten Moment in den kleinen Aufenthaltsraum.
„Ola, Ola, Eva, da dachte ich, du gehst nach der Sache mit Claude in Sack und Asche und jetzt DAS! Wer ist dieses Herzchen und wie hast du ihn kennen gelernt?"
„Ich hab ihn gestern am Strand gefunden.“
„Gefunden?“, verwunderte sich Jenny. „Muscheln findet man einfach so am Strand, aber doch nicht solche Prachtmänner. Erinnert mich irgendwie an Nick von der Taucherschule.“
Sie ahnte nicht im Entferntesten, wie richtig sie mit dieser Ähnlichkeit zwischen Dimon und Nick, dem Besitzer der Tauchschule, lag. In der Tat hatte Dimon sich bei der Wahl seines menschlichen Äußeren von Nick inspirieren lassen, dem Menschen, den er am längsten und häufigsten draußen am Riff bei seinen Tauchgängen beobachtet hatte.
„Ja, du, das war auch merkwürdig“, erklärte Eva. „Gestern am Strand ist er mir aufgefallen, wie er ziemlich hilflos und splitternackt durchs Wasser torkelte. Erst dachte ich, der muss wohl stockbesoffen sein. War er aber nicht. Nur irgendwie verwirrt, orientierungslos. Ich hab ihn dann mit nach Hause genommen und bei uns auf dem Sofa übernachten lassen. Mehr als den Vornamen weiß ich immer noch nicht von ihm. Er selbst anscheinend auch nicht.“
„Wow, am Ende ist er so was wie ein gestrandeter Meerjungfraumann, oder wie nennt man das?“ Auch bei dieser Bemerkung ahnte Jenny nicht, wie nahe sie der Wahrheit kam.
„Ich habe keine Ahnung, hoffe einfach, dass er sich mit der Zeit erinnert, wer er ist und was mit ihm passiert ist. Vielleicht sollten wir auch die Polizei einschalten, ihn vom Arzt untersuchen lassen, was weiß ich. Jetzt jedenfalls müssen wir erst mal den Laden aufmachen. Unsere Kundschaft brennt darauf, uns den neuesten Seemonster-Merchandisingschrott aus den Händen zu reißen und unsere überteuerte Sonnenmilch zu kaufen.“
Die Kundschaft würde jedoch nie darauf kommen, dass sie hier und heute von dem echten Seemonster bedient wurde. Dimon half tatsächlich auch weiterhin, obwohl er die meiste Zeit mehr hilflos im Weg stand als eine tatsächliche Unterstützung zu sein. Zwischendurch, als es einmal ruhiger war, fragte er, auf eines der Seemonster-T-Shirts deutend: „Was für ein komisches Wesen soll das denn sein?“
„Wie jetzt?“ Jenny war ehrlich überrascht. „Sag nicht, du bist der Einzige, der von dem Trubel rund um das angebliche Seemonster, welches neuerdings die Touristenattraktion ist, noch nichts mitbekommen? Also, ich glaube kein Wort davon. Alles geschickt inszenierter Schwindel um leichtgläubigen Idioten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Und mir ist noch kein Monster begegnet. Dabei bin ich oft genug draußen beim Surfen.“
Dimon stieß ein schnaubendes Geräusch aus, verbiss sich gerade noch ein: „Das Monster steht genau vor dir.“ Stattdessen sagte er: „Also so sieht das Seemonster mal ganz sicher nicht aus.“
Interessiert mischte sich Eva ein: „Jetzt sag nicht, du hast dieses Monster gesehen?“
„Und wenn es so wäre?“
„Das würde in der Tat deinen desolaten Zustand erklären“, murmelte Eva mehr zu sich selbst als zu den anderen. Lauter fügte sie hinzu: „Kannst du es uns aufmalen? Deine Version des Monsters?“
Ehe er sich’s versah hatte Eva ihm einen Schreibblock und einen Stift in die Hand gedrückt. „Los, versuch’s, ich will wissen, wie du dieses Monster siehst.“
Malen, du liebe Güte! Er war schon froh, dass er diesen blöden Körper inzwischen halbwegs beherrschte und jetzt diese neue Herausforderung. Zaghaft machte er einige Striche auf dem Papier und dann schien alles fast von selbst zu laufen. Der Stift glitt übers Papier und vor den Augen der Frauen entstand eine Art Fischmensch.
„Sieht für mich aus wie das Wesen aus der schwarzen Lagune“, bemerkte Jenny. „Hat aber auch ne gewisse Ähnlichkeit mit diesen außerirdischen Viechern aus „Spezies“. Und das willst du gesehen haben?“
„Glaub es oder lass es“, erwiderte Dimon schulterzuckend. Herbeiströmende Kundschaft verhinderte zunächst eine weitere Diskussion über das Seemonster. Dennoch blieb Dimon nicht verborgen, dass Jenny Eva zuflüsterte: „So süß, wie er auch ist, verwirrt ist der wirklich.“ Und diese Bemerkung löste so große Verärgerung bei ihm aus, dass er sich am liebsten hier und jetzt zurückverwandelt hätte, um zu zeigen, dass er keineswegs der verwirrte Spinner war, für den sie ihn offensichtlich hielt.

Er beherrschte sich, den ganzen endlos scheinenden Tag lang. Versuchte, sich so nützlich wie möglich zu machen, freundlich zu all den Seemonster-Gläubigen zu sein. Diese Situation war geradezu aberwitzig. Die Leute kauften begeistert die Artikel mit dieser Karikatur eines Seemonsters, redeten darüber, als hätten sie es persönlich eingefangen und genauestens studiert oder würden dies zumindest in allernächster Zeit tun. Und das tatsächliche, echte Seemonster stand dieweil in unauffälliger Menschengestalt direkt neben ihnen und sie hatten keine Ahnung davon. Nachdem sein erster Ärger über diese leichtgläubigen Menschen verflogen war verbrachte Dimon den Rest des Tages in sehr heiterer Stimmung. Das Lachen, zu welchem sein derzeitiger Körper fähig war, fühlte sich recht angenehm an. Endlich war der Tag vorbei, die Frauen sperrten den Kiosk für die Nacht zu.
„Ich bin noch zu ner Party beim Tauchklub eingeladen“, bemerkte Jenny. „Dieser neue Typ, den Nick als Aushilfstauchlehrer eingestellt hat, also, wenn der bei mir abtauchen würde, hätte ich absolut nichts dagegen. Wie sieht es aus, habt ihr Lust, mitzukommen?“
Eva und Dimon verneinten gleichzeitig. Jenny zwitscherte ein: „Tschau und schönen Abend noch und lasst euch nicht vom Seemonster fressen!“, und war verschwunden.
„Das Seemonster frisst keine Menschen“, knurrte Dimon mit unüberhörbarer Wut in der Stimme hinter ihr her, woraufhin Eva ihn verwundert anschaute, ehe sie zu ihrer Frage überleitetet: „Ich hätte jetzt eher Lust, wieder an meinen kleinen einsamen Strandabschnitt zu gehen, dort noch ein bisschen abzuschalten. Oder bist du so müde, dass du lieber nach Hause möchtest?“
„Nein, ich bin gar nicht müde und ich komme gerne mit.“
Wie gestern auch packte Eva ihre Decke und ihre Kanne Kaffee ein, begab sich mit Dimon zu „ihrem“ Strandabschnitt. Eine ganze Weile saßen sie einfach nur schweigend zusammen auf der Decke, lauschten dem Rauschen der Wellen, tranken ihren Kaffee, knabberten Kekse dazu. Bis Eva das Schweigen brach: „Dimon, auch auf die Gefahr, dass ich dich damit nerve, aber was war das vorhin wirklich, mit diesem Seemonster, dass du gemalt hast und gesehen haben willst?“
Dimon überlegte lange, ehe er antwortete: „Dass ich es gesehen haben will ist so nicht ganz richtig.“
„Also bist auch du nur einer von diesen Spinnern, der sich wichtig machen will. Schade.“
„Das wiederum ist so ganz und gar nicht richtig.“
„Kannst du vielleicht mal aufhören, in Rätseln zu sprechen?“
„Bist du dir sicher, dass du die Wahrheit hören willst?“
Eva wurde langsam wütend: „Jetzt hör mir mal zu! Ich habe mich gestern ganz selbstverständlich um dich gekümmert, hab dich mit zu mir nach Hause genommen, obwohl ich nichts von dir weiß, gar nichts! Ich glaube immerhin, dass du okay bist, dass ich dir vertrauen kann. Also bist du mir die Wahrheit so langsam wirklich mal schuldig.“
„Gut, wie du meinst. Aber du musst mir 2 Dinge versprechen: Erstens, du behältst alles, was ich dir jetzt sage und zeige für dich. Weder dein Vater noch Jenny noch sonst irgendwer darf davon erfahren. Und zweitens, was auch passiert, was du auch siehst und hörst, hab keine Angst vor mir. Ich werde dir nichts tun, niemals. Und das war mein Versprechen an dich.“
„Okay, du machst es ja ganz schön spannend.“
„Was ist jetzt, versprichst du es? Oder willst du die Wahrheit auf einmal nicht mehr wissen? Dann kann ich jetzt auch aufstehen und gehen und du siehst mich nie wieder.“
„Nein, bleib, bitte bleib! Gut, ich verspreche es. Egal, was du mir sagst und zeigst, ich werde es weder ausplaudern noch werde ich Angst davor haben.“ Sie reichte ihm die Hand um die Abmachung zu besiegeln.
„Also gut, um es kurz zu machen, ich habe das Seemonster nicht gesehen, ich bin das Seemonster.“
„Du!“, stieß Eva ungläubig aus.
„Unterbrich mich bitte nicht, es ist auch so schon schwer genug.“ Mit ungläubigem Erstaunen lauschte Eva seinem Bericht von seiner Heimatwelt, seiner Erkundungsmission zu ihrem Planeten, seiner ersten Zeit, die er hier im Meer in seiner natürlichen Gestalt verbracht hatte und damit ganz unbeabsichtigt einen wahren Seemonsterboom ausgelöst hatte, schließlich beschlossen hatte, sich selbst in einen Menschen zu verwandeln, um mehr über die Menschen zu lernen, indem er unauffällig unter ihnen lebte. Sie unsicher ansehend beendete er seinen Bericht mit den Worten: „Das war jetzt so ziemlich alles.“
Eva erschien es selbst merkwürdig, dass sie seinen Bericht nicht eine Sekunde anzweifelte. So etwas konnte sich doch nur jemand ausdenken, der komplett durchgedreht war, oder etwa nicht? Und gerade, weil es so unglaubwürdig klang glaubte sie ihm.
„Und in deiner ursprünglichen Gestalt siehst du dann so aus, wie du es vorhin im Laden aufgemalt hast?“, fragte sie schließlich.
„Ziemlich genau. Im Malen bin ich leider absolut ungeübt.“
„Und du kannst dich jederzeit hin und her verwandeln?“
„Kann ich, ja. Auch wenn es eine Menge Kraft und Konzentration erfordert. Und einiges an Zeit.“
„Dann wäre es also zu viel verlangt, es mir eben zu demonstrieren?“
„Du glaubst mir nicht? Ist es das? Und wenn ich jetzt kneife und sage, ich kann mich nicht verwandeln, dann hast du Recht gehabt?“
„Ja … Nein … ach, ich weiß nicht! Ich möchte dir glauben, ja, ich glaube dir. Und trotzdem…“
„Also gut, dann nehme ich es auf mich.“ Mit diesen Worten begann er sich seiner Kleidung zu entledigen, ging in Richtung Wasser.
„Halt! Was machst du denn da?“ Eva sprang auf, rannte hinter ihm her.
„Meinem ursprünglichen Körper passen diese Sachen mal ganz sicher nicht. Und ins Wasser muss ich, weil ich an Land nicht mehr atmen kann, sobald ich mich zurück verwandelt habe.“ Er watete ins Meer hinaus, ließ eine verblüffte Eva am Strand zurück, die nicht wusste, was sie von dieser Situation halten sollte. Sie beobachtete, wie sein Körper plötzlich von Krämpfen geschüttelt wurde, auf einmal unter Wasser verschwand. Sie war keine ausgebildete Rettungsschwimmerin, tatsächlich nicht einmal eine besonders gute Schwimmerin. Dennoch riss sie sich jetzt ebenfalls ihre Sachen von Leib, schwamm hin zu der Stelle, wo sie ihn eben noch gesehen hatte. „Dimon!“, schrie sie dabei in die Dunkelheit hinaus. „Dimon!“.
Etwas streifte sie unter Wasser, einen Moment lang war sie kurz davor, hysterisch zu werden. Dann schien es ihr, als hörte sie erneut seine Worte: „Was du auch siehst und hörst, hab keine Angst vor mir. Ich werde dir nichts tun, niemals. Und das war mein Versprechen an dich.“
Da war irgendetwas, was halb vor ihr aus den Wellen auftauchte, ein Etwas, dessen Aussehen irgendwo zwischen menschlich und geradezu grotesk angesiedelt war.
„Dimon?“, fragte sie unsicher.
Das Etwas schwamm um sie herum, schien nicht mehr in der Lage, mit ihr zu reden. Menschenähnliche Hände berührten sie, nein, eher riesige, mit Schwimmhäuten versehenen Pranken. Und mit diesen Händen packte das Wesen Evas Arme und Beine, schlang sie um seinen Körper, der sich rau und schuppig anfühlte, nahm sie mit auf einen wahren Höllenritt, hinaus ins Meer. Das Ding, welches offensichtlich tatsächlich einmal Dimon gewesen war, schwamm mit atemberaubender Geschwindigkeit knapp unter der Wasseroberfläche dahin, schien jedoch peinlich genau darauf bedacht, dass Eva stets über Wasser blieb. Mitunter katapultierte es sich, einem Delphin gleich, aus dem Wasser hinaus. Beim wieder eintauchen geriet auch Eva automatisch für kurze Zeit unter Wasser. Krampfhaft klammerte sie sich an dem Wesen fest. Mochte es Dimon oder wer oder was auch immer sein, ihr blieb keine andere Wahl, als darauf zu vertrauen, dass sie das hier überleben würde. Längst war die Küste außer Sichtweite und auch verschieden Lichter, die von Schiffen herrührten, schienen viel zu weit weg zu sein. Rings um sie her nur Wellen und Dunkelheit. Eva begann zu frieren, nicht nur vor Kälte, auch die Angst ließ sie zittern. Ohne echte Hoffnung auf Erfolg rief sie dem Wesen zu: „Bring mich zurück! Bitte, bring mich zurück!“ Bildete sie sich das nur ein, oder wendete es tatsächlich, schwamm zur Küste zurück? Als die Lichter des Küstenstädtchens wieder vor ihr auftauchten, hätte sie vor Erleichterung beinahe geweint. Erst recht, als das Wesen ihr klar machte, dass sie jetzt wieder loslassen konnte, sie tatsächlich wieder Grund unter den Füßen spürte. Sie taumelte an den Strand zurück, ließ sich zitternd und erschöpft in den Sand sinken. Doch wo war Dimon? Suchend schaute sie über die Wasseroberfläche, meinte, eine Bewegung auszumachen. Und dann war es wieder wie gestern, wo sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Der Mann, der scheinbar wie betrunken durch die Wellen taumelte, am Strand hustend und würgend beinahe zusammen brach. Sie lief zu ihm hin. Ja, er war es wirklich, der menschliche Dimon, wie sie ihn gestern aufgefunden hatte. Keuchend nach Atem ringend stieß er heiser hervor: „Jeden Tag mache ich das aber nicht mit. Hoffe nur, du glaubst mir jetzt.“
„Schscht, spricht jetzt nicht. Komm mit und ruh dich aus.“
Wieder geleitete sie ihn zu ihrer Decke. Inzwischen bibberten beide vor Kälte, machten, dass sie wieder in ihre Klamotten kamen, wärmten sich mit den restlichen Kaffee auch von innen auf. Nach einer ganzen Zeit des Schweigens bemerkte Eva: „Tut mir leid, dass ich Teil 2 meines Versprechen nicht halten konnte. Ich hatte Angst, ganz grässliche Angst sogar.“
Noch immer heiser erwiderte er: „Dafür hab ich aber mein Versprechen gehalten, nämlich, dir nichts anzutun.“
„Obwohl ich es selbst erlebt hab, ich kann es noch immer kaum glauben, dass das da draußen tatsächlich du warst.“
Abwehrend hob er die Hände. „Oh nein, nicht noch eine Demonstration! Ganz ehrlich, ich hasse dieses Verwandeln. Es ist mir nie so leicht gefallen wie den anderen meiner Art. Und wenn es dir Recht ist, würde ich jetzt gern erst mal eine Weile so bleiben wie ich bin.“
„Besser aussehen tust du so allemal.“
„Wie bitte!“, empörte er sich. „Ich war der Schwarm aller Mädels auf meinem Planeten. Ein echter Womanizer, wie ihr hier sagen würdet.“ „Mit dem Aussehen, was du jetzt hast, kannst du das hier ohne weiteres auch werden. Aber ich warne dich, ich bin eifersüchtig und teile nicht gern. Zumindest nicht meinen Mann, obwohl Claude das anscheinend als selbstverständlich vorausgesetzt hat.“
„Der Ex, dessen Sachen ich trage und die mir viel besser stehen?“
„Genau der!“
„Klingt ganz so, als wolltest du dich auf eine Liaison mit einem außerirdischen Seemonster einlassen.“
„Vielleicht verletzt das außerirdische Seemonster mich ja nicht, so wie dieser irdische Vollidiot.“
„Betrachte mein Versprechen, dir nichts anzutun, auch dahingehend, dass ich deine Gefühle nicht verletzen werde.“
„Danke.“ Sie schmiegte sich an ihn mit dem Gefühl, hier etwas ganz besonderes für sich zu gewinnen, was niemandem außer ihr zuteil werden sollte.
„Und was erzählen wir den übrigen Menschen, darüber, wer ich bin und woher ich komme?“
„Da fällt uns schon noch was ein. Aber nicht jetzt! Jetzt will ich den Moment genießen, dieses unglaubliche Wow-Gefühl, das immer noch in mir ist.“
„Wenn ich ab sofort nicht mehr als Seemonster in Erscheinung trete, wird sich der ganze Rummel wohl beizeiten wieder legen, was meinst du?“
„Weiß nicht, wahrscheinlich schon. Ist mir auch egal im Moment.“

So saßen sie bis zum Morgengrauen, wobei Eva zwischendurch in seinen Armen einschlief. Während er sie betrachtete wusste er dieses seltsame Gefühl, welches sie schon gestern in ihm ausgelöst hatte, auf einmal einzuordnen.
„Ich bin verliebt“, sagte er lächelnd zu sich selbst, warf einen Blick zum Himmel, auf die nach und nach verblassenden Sterne. „So weit es mich persönlich betrifft, Mission erfolgreich abgeschlossen.“ Danach hatte er nur noch Augen für Eva.