Hexe Stellaluna
(25.02.09, nach ein paar Ideen von Uwe)

Der verzauberte Wald

Mitten im tiefen Wald, dort, wohin sich noch nie eines Menschen Fuß verirrt hat, lebt die liebreizende, junge Hexe Stellaluna ganz allein in ihrem Häuschen. Von ihrer Mutter, der weisen Hexe Hedwiga, wurde sie gründlich in die Kunst der Zauberei eingewiesen. Jedoch war Hedwiga unlängst verstorben. Seitdem war Stellaluna auf sich allein angewiesen. Mit gewöhnlichen Menschen war die junge Hexe noch nie in Berührung gekommen. Davor hatte Hedwiga, welche ihre Kindheit in einem Dorf der Menschen verlebt hatte, sie ausdrücklich gewarnt.
„Die Menschen sind undankbare, wankelmütigen Wesen“, pflegte sie stets zu sagen. „Heute suchen sie dich auf, weil sie deine Hilfe benötigen, dein Wissen um Heilkräuter, Liebestränke und Schutzzauber. Morgen schon denunzieren sie dich, weil es eben dieses Wissen ist, was ihnen Angst macht. Und dann wirst du verfolgt, weil diese abergläubischen Wahnsinnigen denken, du bist mit dem Bösen im Bunde. Dabei merkten die dummen Menschen nicht einmal, dass all die Hexen, welche sie verbrannt haben, nur unschuldige Frauen ohne jede magische Kraft waren. Denn welche Hexe, welcher Zauberer, der tatsächlich der Magie mächtig ist, würde sich freiwillig fangen, foltern und töten lassen.“

So war Stellaluna in der Einsamkeit der Wälder aufgewachsen, sorgsam unterrichtet von ihrer Mutter. So lange diese noch lebte hatte Stellaluna nie etwas vermisst. Jetzt jedoch, wo sie ganz allein war, fühlte sie sich zunehmend einsamer. So beschloss sie eines Tages, mit Hilfe ihrer Zauberkraft den Tieren, welche in der Umgebung ihres Häuschens lebten und den Bäumen, welche um es herum wuchsen, die Fähigkeit zu sprechen zu verleihen. Fortan plauderte sie mit den Vögeln, den Eichhörnchen, Hasen, Rehen, Hirschen und erfuhr von ihnen vieles, was in der Welt vor sich ging. Und die Bäume teilten ihr jahrhundertealtes Wissen mit ihr. Es hätte sicher ein glückliches Leben sein können. Jedoch, je mehr die Jahre vergingen, je älter Stellaluna wurde, umso mehr verspürte sie eine Ungeduld, ein Sehnen, welches sie sich selbst nicht erklären konnte. So sprach sie eines Tages mit einer jungen Ricke darüber, welche soeben zwei liebreizende Kitzlein geboren hatte. Die Ricke sagte zu ihr: „Ich denke, es ist bei dir nicht anders als bei uns Tieren auch. Wir bleiben nicht allein, wir suchen uns einen Gefährten, bekommen Junge mit ihm. Du bist jetzt im besten Alter, dir ebenfalls einen Gefährten zu suchen, zu zweit glücklich zu werden, Kinder zu bekommen.“
„Aber wie soll ich das anstellen?“, fragte Stellaluna verzweifelt. „Ich kenne sonst keine anderen Hexen oder Zauberer. Ebenso wenig kann ich einfach zu den Menschen gehen und mich dort umsehen. Davor hat meine Mutter mich eigens gewarnt.“
Schließlich erinnerte sie sich der alten Kristallkugel ihrer Mutter, welche sie noch nie benutzt hatte. Sie suchte nach der Kugel, die Hedwiga immer dazu verwendet hatte, in die Zukunft zu blicken. Vielleicht würde ihr die Kugel jetzt helfen, etwas über die Menschen und ihr Leben in Erfahrung zu bringen oder aber andere Hexen und Zauberer ausfindig zu machen. Unerfahren im Umgang mit der Kugel versuchte Stellaluna etwas zu sehen. Und tatsächlich, sie hatte Erfolg. Die Kugel offenbarte ihr Einblicke in die Dörfer der Menschen, in ihre vielfältigen, tagtäglichen Verrichtungen. So wurde es zu Stellalunas liebster Beschäftigung, täglich einige Stunden den Menschen zuzusehen. Bis sie eines Tages IHN entdeckte.

Die verzauberte Liebe

Prinz Kidomin bereitet sich auf seine Reise in das benachbarte Königreich vor. Verträge waren zwischen seinem Vater und dem König des Nachbarreiches ausgehandelt worden. Verträge, die beiden Reichen viele Vorteile brachten. Verträge, zu denen auch die Hochzeit zwischen Prinz Kidomin und der Prinzessin Claudette gehörte, welche die Königreiche zusätzlich durch familiäre Bande miteinander verbinden sollte. Noch kannte Prinz Kidomin seine Braut nicht einmal. Er nahm an, dass sie jung, hübsch und reichlich verwöhnt war. Waren das nicht die meisten Prinzessinnen? Aber wie immer sie auch sein mochte, es war seine Pflicht, sie zum Wohle seines Reiches, dessen König er einst sein würde, zu ehelichen. So ließ er sich von seinem Kammerdiener sorgsam zur Reise ankleiden, begab sich zu den Stallungen, wo sein prachtvoller Berberhengst Raisulih ihn bereits geputzt und gesattelt erwartete. Begleitet von seinem Gefolge brach Prinz Kidomin auf. Jedoch waren ihm seine Begleiter viel zu langsam. So zog er es vor, oft weite Strecken allein voraus zu galoppieren. Etwaige Feinde fürchtete er nicht.

Stellaluna saß – wie so oft in letzter Zeit – über ihrer Glaskugel und beobachtete die Menschen. Auf einmal jedoch änderte sich das Bild, welches soeben noch einen Dorfplatz gezeigt hatte. Stellaluna erblickte stattdessen einen stattlichen, jungen, vornehm gekleideten Mann, welcher auf seinem edlen Ross wie der Blitz dahinflog. Eigentümliche Empfindungen durchpulsten die junge Hexe. Sofort war ihr klar, dass sie diesen Mann kennen lernen musste. Nur wie? Einige Tauben, welche neben ihr im Gras nach Körnen pickten, wussten Rat. Sie versprachen, sofort los zu fliegen um heraus zu finden, wer dieser Mann wohl sein möge und wo er sich zurzeit aufhielte. Es währte gar nicht lange, da wussten die Tauben interessantes zu berichten.
„Der junge Mann, den du gesehen hast, ist Prinz Kidomin. Er befindet sich auf der Reise zu seiner Braut, der Prinzessin Claudette.“
„Er will eine andere heiraten, ohne dass ich eine Chance bekommen soll, ihn kennen zu lernen“, dachte Stellaluna verzweifelt. Sie grübelte und grübelte, wie sie es wohl anstellen könne, den Prinzen stattdessen für sich zu gewinnen. Zunächst verwandelte sie sich in einen buntschillernden Vogel, welcher den Prinzen von Stund an begleitete und ihm süßeste Melodien ins Ohr zwitscherte. Dann sah sie ihre Gelegenheit gekommen. Wieder einmal war der Prinz seinen Begleitern weit voraus, rastete an einer Quelle von deren Wasser er durstig trank. Jedoch konnte Kidomin nicht ahnen, dass Stellaluna die Quelle zuvor mit einem Zauber belegt hatte. Sobald er das Wasser getrunken hatte verspürte er eine unstillbare Sehnsucht nach der jungen Hexe, welche er doch noch nie zu Gesicht bekommen hatte.
Noch zögerte Stellaluna, verborgen in einem nahen Gebüsch, trat dann jedoch in ihrer normalen Gestalt mutig vor Prinz Kidomin hin. Die Augen des Prinzen begannen bei Stellalunas Anblick zu strahlen. Er ging auf sie zu, nahm ihre Hände und sprach: „Du bist es, nach der ich mich sehne. Ich bin so froh, dich gefunden zu haben. Nie wieder möchte ich ohne dich sein.“ „Und ich nicht ohne dich“, erwiderte Stellaluna. „Komm mit mir in mein kleines, verborgenes Reich wo uns kein Mensch je stören wird.“
Vergessen waren Prinzessin Claudette, seine Eltern und das Königreich. Kidomin hob Stellaluna in Raisulihs Sattel, saß hinter ihr auf und beinahe wie schwebend, ohne eine verräterische Spur zu hinterlassen, trabte Raisulih mit dem jungen Paar auf dem Rücken immer tiefer in den Wald hinein, hin zu Stellalunas Häuschen.

Die nun folgenden Wochen waren für Stellaluna mit ihrem Prinzen wie ein wahr gewordener Traum. Tatsächlich schien Kidomin nichts und niemanden zu vermissen, war vollkommen glücklich damit, Hand in Hand mit Stellaluna durch den Wald, über blühende Wiesen zulaufen, im Gras in der Sonne zu liegen, dem Gesang der Vögel, dem Summen der Insekten zu lauschen, mit ihr zusammen einfache Mahlzeiten einzunehmen, im Waldsee zu baden, mit ihr zu singen und zu lachen. Es schien ihn auch keineswegs zu verwundern, dass die Tiere, welche er hier antraf, der menschlichen Sprache fähig waren. So hatte er manch anregende Diskussion mit seinem Ross Raisulih, welchem Stellaluna ebenfalls die Fähigkeit zu sprechen geschenkt hatte, jedoch unter der Bedingung, niemals Kidomins altes Leben zu erwähnen. Hätte Stellaluna noch jemals in ihre Kristallkugel geblickt, sie hätte ungezählte königliche Suchtrupps gesehen, welche den Wald erfolglos nach Prinz Kidomin durchkämmten. Sie hätte seine verzweifelten Eltern gesehen, die nicht anders meinten, als dass ihr Sohn unter die Räuber gekommen sei. Und sie hätte Prinzessin Claudette gesehen, die vergeblich auf ihren Bräutigam wartete. Aber die Kugel interessierte sie nicht mehr, jetzt, wo sie bekommen hatte, was sie wollte und nie glücklicher gewesen war.

So versuchte sie lange Zeit zu übersehen, was immer offensichtlicher wurde. Mochte Kidomin auch tagsüber, unter ihrem Zauberbann, ebenso glücklich sein wie sie selbst, so brach sich doch des Nachts im Schlaf sein Unterbewusstsein Bahn. Im Traume hörte sie ihn sprechen, von der Sorge um das Königreich, der Sehnsucht nach seinen Eltern, der geplatzten Hochzeit mit Claudette. Selbst am Tage fiel es ihr zunehmend schwerer, mit Hilfe ihrer Magie die glückliche, unbeschwerte Fassade aufrecht zu erhalten. So musste sie schließlich schweren Herzens erkennen, dass sie nicht länger das Recht hatte, ihn hier egoistisch für sich allein festzuhalten, dass sie ihm sein altes Leben zurück geben musste, wie schwer es ihr auch fallen mochte.

Das unzerbrechliche Herz

Stellaluna rief zunächst alle Tiere zusammen, mit denen sie befreundet war, um sich mit ihnen zu beraten. Die weisen, alten Bäume gaben ebenfalls ihren Rat dazu. Und alle versprachen, immer für Stellaluna da zu sein, sie über den bevorstehenden Verlust ihres Prinzen Kidomin hinweg zu trösten. Da sie die wunderschönen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit nicht einfach mit einem Vergessenszauber beseitigen wollte, belegte sie ihr Herz mit einem Bann, welches es am Zerbrechen hindern sollte. Sonst hätte die Trauer über diese freiwillig auferlegte Trennung sie getötet. Danach besprach sie sich mit Raisulih: „Ich weiß, dass dein Herr hier bei mir nicht wirklich glücklich ist. Es ist nur ein vorgetäuschtes Glück, welches ich mit meiner Magie bewirkt habe. Tatsächlich sehnt er sich nach seinem alten Leben zurück. Sobald er heute Morgen aufgestanden ist wirst du bereit stehen und er wird in deinen Sattel steigen. Sodann werde ich ihn mit einem Zauber belegen, der ihn in einen leichten Schlaf versetzen wird. Du wirst den Weg aus meinem Wald heraus mühelos finden und sobald ihr wieder auf vertrauten Wegen seid, wird sein Schlaf beendet sein. Er wird sich an nichts mehr erinnern können, außer in seinen Träumen. Dort werde ich in Zukunft meinen Platz haben. Du wirst ihn sicher nach Hause bringen. Deine Fähigkeit, die menschliche Sprache zu sprechen, werde ich dir lassen. Aber sei vorsichtig damit und verwende sie niemals, außer es wird je so weit kommen, dass Kidomin sich bewusst an mich und unsere gemeinsame Zeit erinnert. Dann, wenn er selbst es wünscht, bring ihn zu mir zurück.“
Und so geschah es. Wehmütig umarmte und küsste Stellaluna ihren Prinzen ein letztes Mal, dann bestieg er sein getreues Ross und der Schlaf kam über ihn.

Prinz Kidomin rieb verwundert seine Augen und blinzelte in den hellen Sonnenschein. Dass er tatsächlich im Sattel sitzend einschlief war ihm ja noch nie passiert. Wo war er überhaupt, wohin wollte er und wo war sein Gefolge? Seine Gedanken waren ein einziger wirrer Klumpen. Da waren Erinnerungen an Prinzessin Claudette, welche er heiraten sollte, Träume, die sich ihm entzogen, sobald er sie zu fassen versuchte. Raisulih schien jedoch genau zu wissen, wohin er wollte, trabte zielstrebig die Straße in Richtung Hauptstadt entlang. So war er noch gar nicht lange geritten als ein Trupp königlicher Soldaten des Weges kam. Der Hauptmann ließ halten, wollte Prinz Kidomin gerade fragen, wer er sei und wohin er wolle, da erkannte er den lange vermissten. Mit größter Verwunderung rief er aus: „Prinz Kidomin! Ihr seid es wirklich! Welche Freude, welche große, unerwartete Freude, Euch heil und gesund wieder zu sehen! So viele Monde haben wir vergebens nach Euch gesucht. Zuletzt hielt man Euch für tot, meinte nicht anders, als das ihr Räubern in die Hände gefallen seid. Aber sagt doch, was ist Euch widerfahren?“
„Ich … ich weiß es selbst nicht“, stammelte Kidomin verwirrt. „Wenn Herr Hauptmann so gütig sein wollen, mich zum Schloss meines Vaters zu eskortieren.“
So kam Kidomin nach langer Zeit unter dem Schutz der Soldaten wohlbehalten wieder zu Hause an. Die Freude und Verwunderung seiner Eltern war übergroß. Jedoch hatte sich während seiner Abwesenheit einiges ereignet. Da die vertragsmäßig ausgehandelte Heirat mit Claudette wegen seines Verschwindens nicht hatte stattfinden können, diese Verbindung zwischen beiden Königshäusern jedoch überaus wichtig war, hatte ein Vetter des Prinzen dessen Part als Bräutigam übernommen und würde auch der Nachfolger des Königs auf dem Thron werden. Unter Tränen sagte der König zu seinem Sohn: „Es tut mir unendlich leid, dass du auf diese Weise um alles gebracht wurdest. Aber unter den gegebenen Umständen blieb mir keine andere Wahl. Es ließ ja alles darauf schließen, dass du längst nicht mehr unter den Lebenden weilst.“
So war Prinz Kidomin zwar wieder in sein altes Leben zurück gekehrt, aber nichts war mehr so, wie es sein sollte. Er war in seinem eigenen Leben zu einer unbedeutenden Randfigur geworden, zwar von allen aufs herzlichste willkommen geheißen, jedoch ohne eine nützliche Position oder Aufgabe. Noch immer konnte er sich an nichts erinnern, was während der Monate der Abwesenheit mit ihm geschehen war. Des Nachts hatte er intensive, lebendige Träume, während denen er in schwerelosem Glück zu schweben schien. Jedoch konnte er sich nach dem Erwachen an keinen seiner Träume entsinnen. Seine Tage verbrachte er damit, auf Raisulih durchs Land zu reiten, war am liebsten für sich allein.

Doch wie war es Stellaluna seitdem ergangen? Der Zauber des unzerbrechlichen Herzens tat seine Wirkung gut. Obwohl sie sich genau an ihre Zeit mit Kidomin erinnerte, schmerzte sie diese Erinnerung nicht. Jedoch empfand sie auch keinerlei Freude mehr, weder am Sonnenschein noch an den Blumen oder dem Gesang der Vögel. Was immer ihre Freunde, die Tiere und die Bäume, auch versuchten, mit Prinz Kidomin war auch Stellalunas Lebensfreude, ihre Heiterkeit und ihr Lachen aus ihrem Leben verschwunden. So waren sie beide, die Hexe Stellaluna und der Prinz Kidomin, ohne einander zutiefst unglücklich, letzterer jedoch, ohne zu ahnen warum. Jeder für sich lebte mechanisch vor sich hin, tat was notwendig war oder von ihm verlangt wurde, ohne dabei jemals tiefe Befriedigung zu erfahren.

Eines Tages war Prinz Kidomin wieder allein auf Raisulih weit hinaus geritten, auf einsamen, unwegsamen Pfaden, getrieben von etwas, wovon er nicht wusste, was es war. Erschöpft rastete Kidomin während der Mittagshitze an einem Bach. Raisulih rupfte zufrieden das saftige Gras am Bachufer während sein Herr sich seufzend zurück lehnte und mehr zu sich selbst als zu Raisulih redete: „Ach, wenn du doch sprechen könntest! Vielleicht könntest du mir erklären, was in dieser Zeit mit mir passiert ist, die meinem Gedächtnis so komplett entfallen ist und doch so greifbar nahe scheint.“
Zu seiner größten Verwunderung antwortete Raisulih tatsächlich: „Ich kann durchaus sprechen, Herr!“
„Du … du spricht?!? Du, mein Pferd! Wie ist das möglich?“
„Ich werde Euch alles erzählen, Herr. Unter einer Bedingung. Versprecht mir, schwört mir, dass ihr nicht zornig werdet, egal, was Ihr jetzt erfahrt.“
„Ich schwöre es, bei meinem Leben!“
So erfuhr Prinz Kidomin alles, was sich während seiner Zeit bei Stellaluna zugetragen hatte. „Das ist unglaublich“, verwunderte sich Kidomin, als Raisulih seine Erzählung beendet hatte. „Auf einmal stehen alle meine Träume, die ich nach dem Erwachen stets vergessen hatte, klar vor mir. Gern würde ich jetzt, bei klarem Verstand, mit dieser Stellaluna sprechen. Nur, kannst du mich zu ihr bringen?“
„Das werde ich gern tun. Doch zuvor muss ich sicher sein, dass Ihr ganz bestimmt nicht böse auf sie seid, weil sie Euch sozusagen Euer ganzes, bisheriges Leben gestohlen hat. Sie hat Euch kein Leid zufügen wollen, sie tat es aus Sehnsucht.“
„Ich verstehe durchaus. Wahrscheinlich war es mir vom Schicksal einfach nicht bestimmt, Prinzessin Claudette zu heiraten und nach meinem Vater König zu werden. Jetzt möchte ich auch wissen, wen das Schicksal stattdessen für mich bestimmt hat. Nur kann ich nicht noch einmal einfach so verschwinden. Ich werde jetzt zu meinen Eltern reiten und mich verabschieden, um meine verlorenen Erinnerungen und den neuen Sinn meines Lebens zu suchen.“

Traurig saß Stellaluna auf der Bank vor ihrem Häuschen, hing wie so oft ihren Erinnerungen an Kidomin nach. Die Kristallkugel hatte sie nicht nach ihm befragt. Sie hätte es nicht ertragen, ihn jetzt womöglich glücklich an der Seite von Prinzessin Claudette zu sehen. So war sie nicht wenig überrascht, als plötzlich aufgeregt der Eichelhäher geflogen kam, auf ihrem Schoß landete und erst mal nach Luft schnappen musste, ehe er sprechen konnte: „Stellaluna, du wirst es nicht glauben, wen ich soeben durch den Wald in Richtung deines Häuschens reiten sah…!“
„Ist … ist das wirklich wahr?“, stammelte Stellaluna.
Die Bäume, welche weit über alles hinweg blicken konnten, bestätigten es kurz darauf. Es war ganz ohne jeden Zweifel Prinz Kidomin, welcher da auf seinem Raisulih heran geritten kam. Stellaluna spürte deutlich, wie ihr Herz, welches bis jetzt wie tot in ihrer Brust gelegen hatte, wild zu klopfen begann. Dann standen sie vor ihr, Raisulih mit seinem Reiter, Prinz Kidomin. Der Hengst sprach als erstes: „Stellaluna, ich bringe dir meinen Herren, Prinz Kidomin, zurück, er kennt jetzt die Wahrheit und kommt aus freien Stücken zu dir zurück.“
Kidomin war unterdessen abgesessen, trat auf Stellaluna zu, ergriff ihre Hände, sah ihr tief in die Augen, sehr wach und bewusst diesmal. Und Stellaluna wagte kaum zu atmen. Was würde er sagen, wie sich entscheiden? Würde er bleiben oder wieder verschwinden?
„Du bist also die Hexe, die mich so bezaubert hat, dass ich darüber alles andere vergessen habe? Aus meinen Träumen kannte ich dich, aber dich jetzt zu sehen, das verzaubert mich auch ohne Magie.“
Gemeinsam setzten sie sich auf die Bank, berichteten sich alles, was geschehen war, während die Vögel in jubelnde Gesänge über Prinz Kidomins Rückkehr ausbrachen. Am Ende dieses denkwürdigen Tages war es beschlossene Sache, dass Prinz Kidomin freiwillig und ohne Liebeszauber bei seiner Stellaluna bleiben und sie zu seiner Frau machen würde. Denn nichts ist stärker als der Zauber ehrlich empfundener Liebe.