Die Vampirin und der Prinz
(19.05.10)

Die Hauptpersonen:

Prinz Domanian von Kamenberg

Prinzessin Nuée von Kamenberg, geb. de Burruisseau, seine Gemahlin

Felix, der Sohn von Domanian und Nuée

Sterna von Herzingen, Vampirin

Andrej, Werwolf

Niemand wusste mehr zu sagen, seit wie vielen Generationen das alte Schloss Herzensgrund schon verlassen dastand. Das Geschlecht derer von Herzingen war buchstäblich nach und nach ausgestorben. Sollte es irgendwo noch entfernte Nachkommen geben, so lebten diese in aller Welt verstreut und niemand interessierte sich mehr für das nach und nach verfallende Gemäuer.
Eines Tages jedoch begab es sich, dass Prinz Domanian von Kamenberg auf einer seiner Reisen an eben jenem Schlosse vorbei kam. Der Prinz reiste in Begleitung seiner zauberhaften, jungen Gemahlin, welche er anlässlich eines rauschenden Empfangs, den entfernte Verwandte seiner Familie in Frankreich gegeben hatten, kennen und lieben gelernt hatte. Stammte doch die liebreizende Princesse aus dem altehrwürdigen Hause derer de Burruisseau. Und kaum waren diese beiden einander angesichtig geworden, da waren auch schon ihre Herzen in Liebe zueinander entbrannt. Vor wenigen Monaten hatte Nuée ihrem Gemahl einen prachtvollen Stammhalter geboren und somit war das Glück des jungen Paares vollkommen. Die Reise der jungen Familie galt dem Zwecke, den prinzlichen Stammhalter in der weit verstreut lebenden Verwandtschaft vorzustellen. Und eben diese Reise führte auch an Schloss Herzensgrund vorbei, welches erhaben droben auf seinem Felsen thronte.

„Schau“, sprach der Prinz zu seiner Gemahlin, „dieses prachtvolle Schloss dort oben. Wer mag dort wohl leben?“
„Dieses Gemäuer sieht nicht grad so aus, als wäre es noch bewohnt“, erwiderte Nuée.
„Das werden wir uns einmal ansehen“, bestimmte Domanian, legte den Gang ein und setzte sein Auto wieder in Bewegung. Langsam suchend fuhr er weiter und richtig, bald schon fand er einen schief stehenden, verwitterten Hinweis, welcher die Straße zum Schloss wies. Steil und kurvig wand sich die offensichtlich schon länger nicht mehr befahrene Straße den Berg hinauf. Nachdem Nuée, die auf dem Beifahrersitz langsam ungeduldig wurde schon meinte, diese Straße würde nie ein Ende nehmen, passierten sie eine steinerne Brücke und dahinter öffnete sich der verwilderte Schlosspark, welchem seine einstige Pracht noch anzusehen war. Domanian lenkte den Wagen bis direkt vor die Treppe, welche zum Haupteingang empor führte. Zusammen mit Nuée stieg er aus.
„Was machen wir mit Felix?“, fragte diese besorgt, einen Blick auf das friedlich in seinem Kindersitz schlummernde Baby werfend.
Domanian ergriff ihre Hand, meinte, sie mit sich ziehend: „Wir schauen uns doch nur kurz um und bleiben ganz in der Nähe vom Auto. Ihm wird schon nichts passieren und er wird auch nicht gerade jetzt aufwachen.“
Zusammen liefen sie die Treppe zum Haupteingangstor hinauf. Wie nicht anders zu erwarten war dieses verschlossen. Obwohl hier ganz offensichtlich wirklich niemand mehr lebte betätigte Domanian mehrmals den Türklopfer. Dumpf hallte das Geräusch durch das alte Gemäuer, jedoch kein Butler in perfektem Anzug und weißen Handschuhen erschien, um zu öffnen. Weiter liefen sie um das Schloss herum, versuchten, durch die hohen Fenster ins Innere zu spähen, rüttelten vergebens an jeder Tür. Alles, was von außen zu sehen war, waren vereinzelte, mit Tüchern abgedeckte Möbelstücke. Nuée dauerte das alles viel zu lange. Domanian jedoch war total fasziniert. Als seine Frau ihn endlich dazu überredet hatte, zum Auto und somit zu Felix zurück zu kehren, war er Feuer und Flamme, schwärmte und plante den ganzen weiteren Weg.
„Irgendwem muss dieses Schloss doch gehören. Und ich wette, im Rathaus der nächsten Stadt, durch die wir kommen, kann man uns Auskunft geben. Stell dir nur mal vor, welch prachtvoller Familiensitz es für uns sein könnte. Wir werden alles ganz neu und schön herrichten lassen. Ahh, ich sehe jetzt schon vor mir, wie Felix im Schlosspark seine ersten Schritt machen wird. Den lassen wir natürlich von einer Gartenbaufirma wieder richtig in Schuss bringen. Wirst schon sehen.“
„Du redest, als ob uns dieses Schloss bereits gehörte“, entgegnete Nuée weniger begeistert. Als wolle er seine Eltern, vor allem seinen Vater, endlich auf ein anderes Thema bringen, wachte Felix auf, verlangte energisch nach einer trockenen Windel und der Brust seiner Mutter. Dennoch ließ sich Domanian nach einer entsprechenden Pause, in welcher die Bedürfnisse seines Sohnes erfüllt wurden, nicht von seinem Plan abbringen, gleich im nächsten Ort, den sie kurz darauf erreichten, das Rathaus für weitere Erkundigungen aufzusuchen.

Der Vollmond schien bereits vom Himmel, als Sterna erwachte. Andrej, der Werwolf und ihr langjähriger Freund, hatte die Gruft bereits verlassen. Wer das übliche Verhältnis zwischen Werwölfen und Vampiren kennt – Todfeindschaft – der mag sich wundern, dass Sterna und Andrej freundschaftliche Gefühle verbanden. Dazu war es vor nunmehr 140 Jahren gekommen, als die Menschen die Existenz von übernatürlichen Wesen noch als selbstverständlich ansahen. Nicht so wie heute, wo diese in die Welt des Films verbannt sind und kaum einer noch wirklich an sie glaubt. Damals war Sterna die letzte Vampirin in dieser Gegend gewesen und Andrej auf der Flucht vor menschlichen Jägern. Dumm waren diese Menschen, es mit Geschöpfen aufnehmen zu wollen, die um so vieles schneller, stärker und mächtiger waren als sie. Dennoch gab es einige wenige Menschen, die ebenfalls schnell und stark waren oder sonst besondere Gaben besaßen, welche sie zu ernst zu nehmenden Gegnern machte. Mitunter war es auch reines Glück, wenn diese selbsternannten Dämonenjäger Erfolg hatten und tatsächlich einen Vampir oder Werwolf zur Strecke brachten. Und jetzt hatte es Andrej in Sternas Revier verschlagen, eine Meute von menschlichen Jägern auf den Fersen. Sterna hätte nicht einmal sagen können, warum sie ihn nicht einfach sich selbst und seinem Schicksal überließ. War es, weil sie schon viel zu lange allein war, ohne einen Ihresgleichen und ein Werwolf, ebenfalls ein Geschöpf der Finsternis, besser war als gar keine Gesellschaft. Jedenfalls gelang es ihr, seine Jäger zu überlisten, ihn zu retten. Er stand damit in ihrer Schuld. Sie hatten beschlossen, sich zusammen zu tun und etwaigen Gefahren gemeinsam besser begegnen zu können. Und die Jahrhunderte hatten ausgereicht, ein zunächst reines Zweckbündnis in eine tiefempfundene Freundschaft zu verwandeln. Zu Lebzeiten hatte Sterna ebenfalls zur Familie derer von Herzingen gehört. Inzwischen war sie die einzige diese Geschlechts, welche noch hier „lebte“, sozusagen. Jedoch hatten sie und Andrej die unter der Schlosskapelle gelegene Familiengruft als ihren Wohnsitz gewählt. Von dieser aber führte ein Geheimgang, der nur Sterna bekannt war, hinüber ins eigentliche Schloss.

Andrej lief unruhig witternd vor der Schlosskapelle herum als auch Sterna schließlich ins Freie trat. Gerade wollte sie fragen, was ihn so beunruhigte, da roch sie es selbst. Nur schwache Überreste eines menschlichen Geruchs, der der Umgebung noch anhaftete.
„Wir hatten Besuch“, bemerkte sie nüchtern. Seit das Schloss leer stand, verirrten sich nur noch gelegentlich Menschen hier herauf. Mitunter schaute der verantwortliche Verwalter, dessen Geruch Sterna und Andrej längst vertraut war, nach dem Rechten. Selten verschlug es neugierige Wanderer auf den Schlossberg. Andrejs feiner Geruchssinn hatte schon längst Einzelheiten erschnuppert.
„Es waren drei Menschen und sie sind mit einem Auto gekommen. Eine weibliche und eine männliche Duftspur und – ganz schwach, kaum zu erkennen – ein sehr junger Menschenwelpe.“
„Was meinst du, haben sie hier gewollt?“
„Es scheint, als wären der Mann und die Frau um das Schloss herum gegangen und hätten versucht, hinein zu gelangen.“
„Hm“, machte Sterna nur. „Aber jetzt sind sie weg, offensichtlich schon seit vielen Stunden. Wahrscheinlich nur wieder Neugierige. Und ich habe jetzt Hunger! Lass uns jagen gehen!“
Kurz darauf waren die beiden im Wald verschwunden um auf Nahrungssuche zu gehen.
Auch das hatte sich im Laufe der letzten Jahrhunderte geändert. Weder die Vampirin noch der Werwolf machten Jagd auf Menschen. Vielmehr erbeuteten sie Tiere im Wald, von denen Sterna das Blut trank während sich Andrej an den Resten des Tierkörpers gütlich tat. So streiften sie stets bis zum Morgengrauen durch die Wälder; Jagdgefährten, Lebensgefährten.

Domanians Hartnäckigkeit hatte sich bezahlt gemacht. Während Nuée, der das alles zu langweilig wurde, mit Felix im Kinderwagen den beschaulichen Kurort Bad Herzberg erkundete, zu welchem Schloss Herzensgrund gehörte, hatte Domanian im Rathaus mit etlichen Leuten verhandelt, mehrere Telefonate geführt. Nuées Handy meldete mit einem leisen Summen und Vibrieren einen eingehenden Anruf. Kaum hatte sie das Handy am Ohr, als sie die sich vor Begeisterung überschlagende Stimme ihres Gatten vernahm: „Endlich ist alles klar, meine Anwälte sind jetzt an der Sache dran und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Schloss Herzensgrund unser Eigentum wird!“
Nach einer Weile des Schweigens auf beiden Seiten redete er weiter wie ein Wasserfall: „Sag mal, freust du dich gar nicht? Ich verspreche dir, das wird GROSSARTIG! Ich habe bereits einen Grundriss vom Schloss und wir beauftragen selbstverständlich nur die besten Firmen, die sich um eine vollständige Sanierung, Renovierung und die Inneneinrichtung bemühen werden. Wenn wir unsere Baby-Vorstellungs-Rundreise beendet haben, dann können wir fast schon einziehen!“
Nuée wunderte sich über sich selbst, dass sie seinen Enthusiasmus so gar nicht zu teilen vermochte. Schließlich versuchte Domanian soeben, ihnen ein behagliches Heim zu schaffen und selbst für eine Prinzessin ist es keineswegs selbstverständlich, mal eben so ein Schloss quasi geschenkt zu bekommen. So versuchte sie, wenigstens etwas Begeisterung in ihre Stimme zu legen als sie sagte: „Ja, Schatz, das wird bestimmt alles ganz toll. Ich mach mich dann mit Felix mal auf den Rückweg zu unserem Auto.“

Etwas war im Gange, jedoch konnten Sterna und Andrej sich keinen Reim auf die Vorgänge machen. Immer häufiger lag in den letzten Tagen der Geruch fremder Menschen in der Luft, die sich in der Umgebung des Schlosses aufgehalten hatten, ja, dieses offensichtlich sogar betreten hatte. Eines Nachts jedoch glaubten die beiden, ihren Augen nicht trauen zu dürfen, so viel hatte sich offensichtlich im Laufe des vergangenen Tages ereignet. Rund um das Schloss war ein Baugerüst errichtet worden. Verschiedenes Baugerät und Abraummulden standen herum. Die Luft war nicht nur geschwängert vom Geruch sehr vieler verschwitzter Menschen, auch von Beton, frisch gesägtem Holz, Farbe und unzähligem mehr. Was ging da vor sich?
„Komm mit“, bestimmte Sterna, zog Andrej energisch mit sich, hin zu ihrer Gruft und durch den Geheimgang ins Schloss hinein. Sterna meinte, „ihr“ Schloss nicht wieder zu erkennen. Nahezu alles schien auseinander gerissen zu sein und in unterschiedlichen Stadien des Umbaus. Neugierig pirschten sich Sterna und Andrej von Raum zu Raum durch alle Flügel und Etagen des Schlosses. Ganz offensichtlich wurden dort komfortabelste Badezimmer, eine moderne Zentralheizung, neue Stromkabel und vieles mehr eingebaut.
„Tja, sieht fast so aus, als bekämen wir neue Untermieter“, versuchte Andrej zu scherzen.
Gereizt entgegnete Sterna: „Ich fass es nicht! Was erlauben die sich, mit meinem Schloss zu machen? Jahrelang war hier himmlische Ruhe, alles gehörte allein uns und jetzt!!!“
„Nur dass es eben nicht mehr dein Schloss ist, so ganz offiziell und auf dem Papier.“
„Ja, ja, dass ich schon längst tot bin und keine Ansprüche mehr stellen kann, das weiß ich auch! Brauchst du mir nicht immer wieder unter die Nase zu reiben. Na hoffentlich lassen die uns in unserer Gruft in Ruhe! Sonst könnte es passieren, dass ich vergesse, dass ich schon seit langem keine Menschen mehr aussauge!“
„Genau das solltest du besser nicht vergessen. Oder willst du, dass die Menschen wieder auf uns aufmerksam werden, Jagd auf uns machen?“
„Nein, natürlich nicht. Aber ärgerlich ist das ganze schon.“

Nacht für Nacht beobachteten Sterna und Andrej nun die Veränderungen, welche am Schloss vorgenommen wurden. Auch der im Laufe der Jahre immer mehr verwilderte Schlosspark bekam nach und nach wieder ein gepflegtes, parkartiges Aussehen. Dann kam der Tag, an dem die Umbauarbeiten offensichtlich abgeschlossen waren. Die Räumlichkeiten des Schlosses waren jetzt mit einer Mischung aus den alten Möbeln, die noch vorhanden gewesen waren und restauriert worden waren und modernen, neuen Möbeln geschmackvoll eingerichtet. Ja, eindeutig war jetzt alles bezugsfertig und wartete nur noch auf die künftigen Bewohner; Prinz Domanian von Kamenberg, seine schöne Nuée und den kleinen Felix.
Kaum konnte Domanian es erwarten, Nuée endlich ihr neues Heim zu präsentieren. Viel zu lange hatten ihm die Arbeiten gedauert, weit länger, als er in seinem ersten Optimismus geglaubt hatte. Doch jetzt war es so weit! Wieder lenkte Domanian sein Auto mit Nuée auf dem Beifahrersitz und Felix in seinem Kindersitz auf der Rückbank die inzwischen frisch asphaltierte und mit einem neuen Hinweisschild auf Schloss Herzensgrund versehene Straße hinauf. Nuée konnte nur staunen, wie anders jetzt alles aussah als bei ihrem ersten Besuch. Der verwilderte Park hatte sich in sorgfältig gestutzte Hecken und Bäume, kunstvoll angelegte Blumenrabatten, gepflegten englischen Rasen verwandelt. Dazwischen prangten Statuen und Wasserspiele, luden Bänke zum Verweilen ein. Und erst das Schloss selbst! Hatte es vorher fast ein wenig gruselig wie ein Spukschloss gewirkt, so schien es Nuée jetzt als ein wirkliches Heim willkommen zu heißen ebenso wie die vollzählig vor dem Schloss angetretene Dienerschaft, allen voran der Butler im korrekten Anzug und weißen Handschuhen.
So nahm die junge Familie von Kamenberg das Schloss in ihren Besitz, nicht ahnend, dass sie nicht die einzigen Bewohner waren. Denn die Schlosskapelle mit der darunter liegenden Gruft waren bei den Umbauarbeiten nicht angetastet worden.

„Riechst du das auch?“, fragte Sterna, als sie zusammen mit Andrej in der Nacht des Einzugs die Gruft verließ.
„Wieder neue Menschen, ist es das, was du meinst? An die ständig neuen Gerüche müsstest du doch langsam gewöhnt sein.“
„Das ist aber gerade kein neuer Geruch! Diese Menschen waren bereits hier.“
Gründlich schnüffelnd sog Andrej die Luft ein, seine Nasenflügel bebten.
„Hm, hm, du könntest Recht haben. Ein Mann, eine Frau und ihr Welpe, doch, ich erinnere mich….“
„Lass uns durch den Geheimgang ins Schloss gehen und nachsehen“, bestimmte Sterna.
„Und wenn uns die Menschen entdecken? Du kennst doch ihre Schlafgewohnheiten nicht! Wer weiß denn, wie lange die wach bleiben, oder ob nicht einer unter Schlaflosigkeit leidet…“
„Um diese Zeit sollten sie in ihren Betten sein und falls einer von ihnen nicht schlafen sollte, na, du wirst schon sehen. Also, komm mit und sei unbesorgt.“
Wieder pirschten sie sich durch den Geheimgang ins Schloss, froh darüber, dass auch an der alten Wandvertäfelung, welche die Geheimtür geschickt verbarg, im Zuge der Umbauten nichts verändert worden war. Leise und vorsichtig öffnete Sterna die Tür, spähte und witterte in den leeren Flur.
„Niemand zu hören oder zu sehen und den Duftspuren nach zu urteilen ist hier in den letzten Stunden auch niemand entlang gegangen. Aber zur Sicherheit…“
Sie begann mit einem Singsang, der selbst auf Andrej eine merkwürdig einschläfernde Wirkung hatte, so lange, bis er sich dieser Wirkung bewusst wurde und sich dagegen wehrte.
„Was soll denn das?“, fauchte er wütend. „Willst du mit deinem Gekrächze erst recht die Menschen auf uns aufmerksam machen?“
„Keine Sorge, meine Stimmlage bei diesem Gesang liegt außerhalb der menschlichen Hörgrenze. Nur ihr Unterbewusstsein kann mein Singen wahrnehmen. Und eben ihrem Unterbewusstsein wird damit suggeriert, wie müde sie doch sind und dass sie jetzt ganz tief und fest schlafen müssen. Ich denke, du hast es selbst eben bemerkt und dich gegen die Müdigkeit zur Wehr gesetzt“, fügte sie grinsend hinzu, bevor sie mit ihrem Lied fortfuhr.
Weiter vor sich hin singend schritt Sterna gefolgt von Andrej durch das Schloss, vom Dienstbotentrakt, in welchem sich die Geheimtür befand in den von der Herrschaft bewohnten Teil den Schlosses. Und so gelangte sie in das Schlafgemach von Domanian und Nuée. Wie angewurzelt blieb Sterna dort vor dem Himmelbett stehen, schaute auf die darin schlummernden. Die Frau beeindruckte sie nicht weiter. Mochte sie auch ein liebliches Gesicht haben, welches sie an die Brust ihres Gatten schmiegte und langes Blondhaar, welches sich über das Kissen ergoss. Aber der Mann! Hier in diesem Raum erschien Sterna sein Duft beinahe unerträglich betörend und sein Anblick erst! Hätte sie noch ein lebendes, schlagendes Herz besessen, es wäre in ihrer Brust zersprungen.
„Verdammt, was tust du denn da!“, zischte Andrej, Sterna zurück reißend, als diese noch näher an das Bett heran trat, eben im Begriff war, die Bettdecke dieses prachtvollen Mannes zu lüften. Mit einer merkwürdig dumpfen Stimme, wie Andrej sie noch nie bei ihr gehört hatte, murmelte Sterna: „Ich muss ihn haben, er soll mein sein!“
Nunmehr sanfte Gewalt anwendend und sie zur Tür schiebend sagte Andrej: „Und du musst anscheinend schleunigst hier raus. Was ist denn nur in dich gefahren?“
Ihren Widerstand ignorierend – denn an reiner Körperkraft war er ihr überlegen – bugsierte Andrej Sterna schleunigst aus dem Schloss hinaus und in den entlegensten Winkel des Schlossparks. Nunmehr nicht länger diesem die Sinne verwirrenden Duft und dem Anblick dieses Mannes ausgesetzt kam Sterna wieder zu klarem Verstand.
„Kannst du mir bitte mal verraten, was das eben sollte?“, schimpfte Andrej. „Willst du mit aller Gewalt auffliegen und diese Menschen zum Feind haben oder was?“
„Hast du das denn nicht bemerkt? Wie unwiderstehlich er gerochen hat? Wie göttlich er aussieht?“
„Gerochen hat er für mich allenfalls frisch geduscht und rasiert und – falls du es so genau wissen willst – frisch nach vollzogener Paarung mit der kleinen Blonden in seinem Arm. Und aussehen! Du meine Güte, wie besonders kann so ein gewöhnlich sterblicher Mensch schon aussehen?“
„Du verstehst es wirklich nicht! Er hat da etwas in mir ausgelöst, was ich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr verspürt habe und auch – seit ich kein gewöhnlicher Mensch mehr bin – nicht mehr für möglich gehalten habe.“
Jäh erinnerte sich Andrej daran, was Sterna ihm einst über ihre Vergangenheit erzählt hatte, ihre menschliche Vergangenheit als Herzogin Sterna von Herzingen. Verheiratet war sie gewesen, mit dem Herzog Georg zu Kanig von Herzingen, hatte mit ihm zwei Söhne gehabt. Und sie hatte ihre Familie geliebt, wie eine Frau ihren Gatten und ihre Kinder nur lieben kann. Bis das Schicksal unbarmherzig zugeschlagen hatte, in Gestalt eines Vampirs, der sie auf einem Vollmondspaziergang durch den Park überfallen und zu Seinesgleichen gemacht hatte. Wie sehr hatte Sterna gelitten, als sie erkannte, was da aus ihr geworden war und vor allem, dass diese Verwandlung sie unwiederbringlich von ihrer Familie, ihrem bisherigen Leben trennte. Und so sehr sie sich auch nach ihrem Manne und den Knaben sehnte, nie hätte sie es fertig gebracht, sie ebenfalls zu verwandeln und zu so einem Dasein auf ewig zu verdammen. So hatte sie dann von Ferne über ihre Familie gewacht, hatte die geliebten Menschen altern und sterben sehen, hatte die Enkel, die Urenkel, die Ururenkel erlebt und doch nicht mehr dazu gehört. Und hatte Sterna bisher geglaubt, sie wäre nie wieder fähig, für irgendjemanden so tief zu empfinden wie für ihre verlorene menschliche Familie – nicht einmal für ihren so sehr geschätzten Werwolffreund – so hatten diese Minuten am Bett von Prinz Domanian sie eines Besseren belehrt.
Andrej verstand und dennoch wagte er zu bemerken: „Aber er gehört dir nicht und wird dir nie gehören. Was wolltest du tun? Jetzt ihn zu diesem Dasein verdammen? Zu der Trauer um seine Frau und seinen Sohn, zu denen er dann nicht mehr gehören kann?“
„Ich weiß es nicht, ich habe nicht nachgedacht, mich einfach nur von diesen überwältigenden Gefühlen leiten lassen. Was passiert wäre, wenn du mich nicht zurück gehalten hättest…“
„Und wie soll es jetzt weiter gehen? Er wohnt nun mal jetzt hier, das heißt, du wirst immer wieder mit ihm konfrontiert werden. Selbst wenn du das Schloss nicht mehr betrittst, sein Geruch wird allem anhaften.“
„Darüber will ich nicht nachdenken! Nicht jetzt! Lass uns jagen gehen, das wird mich auf andere Gedanken bringen und Hunger hab ich sowieso.“ So blieb Prinz Domanian unbehelligt, in dieser Nacht.

Wenn ganz einsam in der Nacht
allein noch die Vampirin wacht
sich zu dir schleicht ganz leis
begehrt dein Blut, so rot, so heiß.
Ach, was schmeckt es köstlich gut,
dein süßes, rot-pulsierend Blut.
Es tropft von ihren Lippen rot,
in ihrer Hand liegt Leben – Tod!


Sterna entzog sich ihm, wie Andrej mit Unmut bemerkte. Seit jener Nacht, in der er sie vom Bett des Prinzen weggezerrt hatte, waren sie nicht mehr zusammen losgezogen wie sonst. Sie wies ihn stets ab mit den Worten, dass sie allein sein wolle um in Ruhe nachdenken zu können. Bis jetzt hatte er sie gewähren lassen, in dieser Nacht jedoch stellte er sie zur Rede:
„So, und jetzt will ich wissen, was mit dir los ist! Du bist so traurig und reizbar, wie ich dich kaum jemals erlebt habe. Mit mir wechselst du kaum noch ein Wort und – lüg mir jetzt nichts vor – du riechst nach IHM! Also, was treibst du, die ganzen, letzten Nächte, wobei du mich nicht gebrauchen kannst?“
Zu seiner Überraschung gab Sterna unumwunden zu: „Ja, ich verbrachte die Nächte bei ihm, aber nicht so, wie du vielleicht denkst. Ich saß an seinem Bett, betrachtete sein im Schlaf so entspanntes, wunderschönes Gesicht. Ja, ich wagte es, über sein Haar, seine Wange zu streichen, seine Hand zu nehmen. Aber vor allem berauschte ich mich an seinem unvergleichlichen Duft.“
Als sie seinem skeptischen Blick begegnete fuhr sie fort: „Sei unbesorgt, ich begehre ihn, das gebe ich zu. Aber ich habe mich jederzeit völlig unter Kontrolle. Oder glaubst du ernsthaft, ich könnte ihm Schaden zufügen?“
„Das musst du selber wissen. So, wie du wissen solltest, dass mir diese ganze Geschichte nicht gefällt. Warum wohl blieben wir seit so vielen Jahren unbehelligt? Weil wir den Menschen aus dem Weg gehen, ihnen keinen Anlass geben, uns zu fürchten, uns jagen zu wollen. Darum konnten wir so lange so friedlich existieren. Überlege dir also gut, was du riskierst und zerstör es nicht.“
„Kann es sein, dass du eifersüchtig bist?“
„Eifersüchtig? Auf so einen armseligen, schwachen, sterblichen Menschen? Besorgt bin ich, um dich, unsere Freundschaft und, ja auch um diesen Mann und seine Familie. Was soll denn daraus werden, hm?“
„Ich weiß es doch selbst nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht mehr ohne ihn sein kann. Er ist … wie eine Droge für mich. Wenn ich nicht bei ihm sein kann, dann … dann werde ich unruhig, zittrig, nervös und, wie du bereits bemerkt hast, traurig und reizbar. Also, lass ihn mir einfach.“
Resigniert zuckte Andrej die Schultern. Hier konnte er wirklich nicht mehr tun als abwarten, aus der Ferne beobachten und hoffen, dass Sterna wieder zur Besinnung kommen würde.

Wie im Rausch zog es Sterna Nacht für Nacht an Domanians Bett. Nuée, die ahnungslos neben ihm schlummert – betört von Sternas Schlafgesang – ignorierte sie völlig. Sie hatte nur Augen für Domanian. Und ohne es bewusst zu wollen ging sie immer weiter. Nur einmal probieren, wie sein Blut schmeckte. Nur ein kleiner Biss, ein winziger Schluck. Und Nacht für Nacht wurde es ihr schwerer, sich zu beherrschen, nicht immer mehr und mehr und mehr zu wollen. Sie flüsterte ihm hypnotisch-beschwörende Worte ins Ohr und so kam es, dass er des Nachts wie ein Schlafwandler das Bett verließ, hinaus ging in den Schlosspark, wo Sterna ihn bereits erwartete. Andrej, der aus seinem sicheren Versteck beobachtete, wie Sterna den Prinzen mit sich in das Gebüsch zog, brauchte nicht mal besonders scharfe Sinne oder eine lebhafte Fantasie um zu erraten, was sie sich im Schutze der Dunkelheit von diesem Manne nahm.

Seit Tagen schon sorgte sich Nuée um ihren Gatten. Ständig war er so müde und blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen, wurde von Halsschmerzen geplagt. Jedoch behauptete er auf ihre Nachfragen stets, es gehe ihm gut, sehr gut sogar und alles wäre in bester Ordnung. Beharrlich weigerte er sich, einen Arzt aufzusuchen. Tatsächlich wäre es Domanian schwer gefallen, zu erklären, was in letzter Zeit mit ihm los war. Müde war er, oft so müde, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Kam hinzu, dass sich sein Hals stets wie entzündet anfühlte und unerklärliche Wunden aufwies, sodass er das verbergende Halstuch gar nicht mehr abnehmen mochte. Morgens, wenn er nur mühsam in den neuen Tag hinein fand, erinnerte er sich an Träume, die ihm so lebensecht vorkamen, die er sich jedoch immer nur schemenhaft ins Gedächtnis zurück rufen konnte. Aber in allen Träumen war diese Frau, die so irreal zu sein schien, als wäre sie gar kein Mensch sondern – ja was eigentlich? Eine Elfe? Eine Göttin? Jedenfalls kein Wesen von dieser Welt mit diesen so unwirklichen, blau-phosphorierenden Augen, die ihn aus der Dunkelheit heraus anglühten, zu sich hinlockten. Da waren lange, blonde Haare, so wie er sie liebte, die sein Gesicht streiften. Beschwörende Worte, in sein Ohr gehaucht. Bruchstücke von leidenschaftlichen Szenen, wie er sie so mit seiner Nuée nie erlebt hatte, tauchten nach dem Erwachen von seinen Träumen auf. Und da war noch etwas, das mit seinen beständigen Halsschmerzen zu tun hatte, sich seiner Erinnerung jedoch hartnäckig entzog. Und seit neuestem meinte er, stets nach dem Erwachen Blut auf seinen Lippen zu schmecken, welches jedoch nicht von ihm war.

So sehr Sterna auch vor sich selbst so tat, als hätte sie die volle Kontrolle über ihr Tun mit Domanian, so sehr schien diese ihr immer mehr zu entgleiten. Hatte sie sich anfangs noch damit begnügt, ihn an seinem Bett sitzend einfach nur anzusehen und vorsichtig zu berühren, so hatte sein Blut sie zu sehr in Versuchung geführt, dann seine Männlichkeit, die sie sich nahm, indem sie ihn unter ihren Bann stellte und zu sich lockte. Zuletzt hatte sie der Verlockung nicht widerstehen können, sich selbst die Adern zu öffnen und seine Lippen mit ihrem Blut zu netzen. Und noch immer redete sie sich ein, dass dies alles doch vollkommen harmlos sei und niemandem schadete. Bis Andrej schließlich eingriff.
Eines Morgens, als sie eben mit Erscheinen des ersten, fahlen Morgenrots am Himmel endlich wieder in der Gruft auftauchte, stellte er sie zur Rede, schrie sie förmlich an:
„Und jetzt ist Schluss mit deinen Spielchen! Ich habe mir das lange genug mit angesehen. Wenn du so weiter machst, dann wird dein heißgeliebter Prinz nicht mehr lange überleben. Ist dir überhaupt klar, wie sehr du ihn die ganze Zeit schwächst? Er ist schließlich nur ein Mensch, ein STERBLICHER! Oder was glaubst du, warum man sie so nennt?“
Sterna versuchte, gleichmütig zu tun, sich zu rechtfertigen: „Ich bitte dich, du übertreibst maßlos! Ich verschaffe ihm eine Lust, wie er sie mit Sicherheit vorher nie erlebt hat. Da ist es wohl nur recht und billig, wenn ich meinerseits der Lust auf sein Blut nachgebe. Außerdem nehme ich es mir ja nicht nur von ihm, ich gebe ihm ja auch mein Blut dafür zurück.“
„Du tust WAS?!?! Ja, bist du denn völlig von Sinnen? Willst du ihn in einen Vampir verwandeln?“
„Ach, übertreib doch nicht“, wiegelte Sterna ab. „Das mit der Verwandlung ist ein sehr kompliziertes Ritual. Dazu reicht es keineswegs, das Blut voneinander auszutauschen.“
„Trotzdem dulde ich es nicht länger, was du Nacht für Nacht treibst. Damit ist Schluss und zwar sofort!“
„Wie willst du mich denn aufhalten, hm?“
„Wenn es sein muss, dann lege ich dich in Ketten! Aber …“
„Das müssen dann aber sehr starke Ketten sein“, unterbrach Sterna.
„Wenn du mich bitte ausreden lassen wolltest! Ich habe nämlich einen besseren Vorschlag. Dein Prinz und seine Familie leben jetzt nun einmal hier und freiwillig werden sie wohl kaum wieder wegziehen. Also werden wir weggehen. So weit weg, dass selbst du keine Chance mehr hast, eben schnell nach deinem Prinzen zu sehen.“
„WEGGEHEN?!? UND WOHIN?!?“
„Mein Vorschlag wäre Amerika, da liegt ne Menge Wasser dazwischen, das wird dich schon aufhalten“, versuchte Andrej, die Angelegenheit scherzhaft zu nehmen.
„Aber ich will mein Schloss nicht verlassen! Das hier ist meine Heimat.“
„Niemand sagt, dass wir für immer wegbleiben. Wie alt ist dein Prinz jetzt? 28? Und wie alt wird so ein Mensch für gewöhnlich? Gehen wir mal davon aus, er lebt noch 60 bis 70 Jahre. So lange müssten wir wegbleiben, danach kommen wir zurück. Für unsereins ist das nun wirklich keine lange Zeit.“
Bekümmert ließ Sterna den Kopf hängen, musste jedoch widerwillig zugeben: „Ich weiß ja, dass du Recht hast. Trotzdem wird es mir verdammt schwer fallen. Amerika also? Dann müssen wir uns zum nächsten Flughafen durchschlagen und uns an Bord einer Nachtmaschine schmuggeln…“
Andrej, der ihre Traurigkeit wie seine eigene spürte, nahm sie tröstend in den Arm.
„Vergiss nie, ich werde immer für dich da sein. Ich war dein Gefährte, bevor du deinen Prinzen getroffen hast und ich werde immer noch da sein, wenn er schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilt. Lass uns den Tag nutzen, unsere wichtigsten Habseligkeiten zusammen zu packen, damit wir in der kommenden Nacht sofort aufbrechen können.“

Und so geschah es

Sehr zur Freude und Erleichterung von Nuée besserte sich der Zustand von Domanian in den folgenden Tagen sichtlich bis er wieder ganz der Alte war. Eines jedoch bliebt Domanian aus dieser Zeit erhalten. In seinen Träumen tauchte noch immer diese geheimnisvolle Frau auf. Denn in seinem Unterbewusstsein war Sterna unauslöschlich gespeichert.

70 Jahre später

Nach langem Umherirren fern der Heimat waren Sterna und Andrej zurück gekehrt.
„Und du bist dir ganz sicher?“, fragte Sterna.
„Ohne Zweifel, ich habe mich genau erkundigt“, erwiderte Andrej.
Dann standen sie endlich wieder vor ihrem Schloss, einem sehr veränderten Schloss.
„Seniorenresidenz Schloss Herzensgrund“, las Sterna von dem Schild vor dem Eingangsbereich ab. „Du hattest Recht, Prinz Domanian hat tatsächlich aus dem Schloss einen Altersruhesitzt gemacht.“
„Sag ich doch, dass ich mich genau informiert hab. Als Domanian und seine Nuée in das Alter kamen, wo sie nicht mehr in der Lage waren, sich selbst mit Hilfe der gewöhnlichen Dienstboten versorgen zu können, ihren Familiensitz aber auch nicht aufgeben wollten, hat der Prinz das Schloss kurzerhand senioren- und behindertengerecht umbauen lassen, geschultes Personal engagiert und nicht zuletzt anderen Senioren ebenfalls ermöglicht, dort einen angemessenen Altersruhesitz zu einem erschwinglichen Preis zu bekommen.“
„Das heißt jetzt im Klartext, Domanian lebt inzwischen 98-jährig noch immer hier, zusammen mit etlichen anderen alten Leutchen.“
„Ganz genau!“
„Und du hast nichts dagegen, wenn ich ihn jetzt wieder sehe?“
„Nachdem wir nun einmal hier sind wirst du dir das wohl kaum nehmen lassen. Also los, worauf wartest du noch? Gehen wir nachsehen, ob unser alter Geheimgang noch immer existiert.“

Tatsächlich waren die Schlosskapelle, die darunter liegende Gruft und somit auch der Geheimgang auch von diesen neuen Umbauarbeiten verschont geblieben.
„Zu Hause“, sagte Sterna nur, sich für einen Moment diesem überwältigendem Gefühl hingebend. Inzwischen endete der Geheimgang im Verwaltungstrakt der Seniorenresidenz. Ihr ausgeprägter Geruchssinn leitete Sterna und Andrej jedoch zielsicher zu den Wohnräumen der Senioren.
„Ich glaub’s ja nicht“, stieß Sterna hervor. „Er hat tatsächlich noch sein altes Schlafzimmer von damals.“
Tatsächlich hatte sich im Schlafgemacht von Domanian und Nuée kaum etwas verändert. Lediglich das Himmelbett war 2 nebeneinander stehenden Pflegebetten gewichen. Und dort schlummerten sie. Hatte Sterna befürchtet, der Anblick des nunmehr greisenhaften Domanian würde sie schockieren, so war dies keineswegs der Fall. Tatsächlich sah sie in dem eingefallenen, faltigen Alten mit dem schütteren, weißen Haar noch immer den wunderschönen jungen Mann, der er einst gewesen war. Sein Geruch, ja, er hatte sich verändert, so, wie alte Menschen nun mal anders riechen. Und doch, er kam ihr noch vertraut vor. Ganz wie in alter Zeit setzte sie sich an sein Bett, nahm seine Hand, streichelte seine Wange, schmiegte sich an ihn.
„Mein Prinz“, murmelte sie, „endlich habe ich dich wieder. Oh, ich hatte Angst, du könntest inzwischen gestorben sein und ich würde nur noch dein Grab vorfinden. Sogar deine Prinzessin ist noch immer bei dir. Wie es scheint hattet ihr ein langes, glückliches, gemeinsames Leben.“
An Andrej gewandt fuhr sie fort: „Er hatte sein Leben, ein ganz normales Menschenleben mit seiner Familie. Es hat ihm an nichts gefehlt. Dann spricht doch jetzt eigentlich nichts mehr dagegen, wenn ich ihn verwandele und zu dem Meinen mache. Gut, er ist alt, aber nach der Verwandlung wird er so stark sein wie nie zuvor. Und vor allem, ich liebe ihn noch immer wie vom ersten Moment an.“
„Ich finde schon, dass praktisch alles dagegen spricht. Wie du selbst gesagt hast, er hatte sein Leben, ein normales Menschenleben. Und das logische Ende eines Menschenlebens ist nun mal ein ganz normaler Tod und kein weiterexistieren bis in die Ewigkeit. Sag selbst, hättest du dir dieses Dasein ausgesucht, hättest du eine Wahl gehabt, wäre es dir nicht aufgezwungen worden?“
„Hm, damals ganz sicher nicht. Obwohl, wenn ich gewusst hätte, dass ich dir begegne…“
„Ja, es war ein Glück für uns beide, dass wir uns begegnet sind. Dennoch, ich weiß nicht viel über das, was die Menschen glauben, was nach dem Tod kommt, wohin ihre Seelen gehen. Aber nach allem, was ich darüber gehört habe, soll es dort – in diesem Jenseits – wunderschön sein. Wenn du deinen Prinzen wirklich liebst, dann gönn ihm das, lass ihn gehen!“
„Leicht fällt es mir nicht, aber … du hast wie immer Recht.“
In dieser Nacht blieb Sterna bis zum Morgengrauen an Domanian Bett, zog sich erst dann mit Andrej in die altvertraute Gruft zurück, als das Pflegepersonal der Tagschicht seinen Dienst antrat.
„Weißt du, was ich glaube, weshalb Domanian sein Schloss bis zuletzt nicht verlassen wollte?“, fragte sie Andrej. Ohne seine Antwort abzuwarten fuhr sie fort: „Ich glaube, dass ein Teil von ihm die ganze Zeit auch auf mich gewartet hat.“
„Und jetzt bist du wieder da…“

Nur wenige Tage nach diesem Wiedersehen vergoss Sterna bittere Tränen an Domanians Grab. In stummen Trost legte Andrej den Arm um sie. Ihr Gefährte für die Ewigkeit.


Fotoquelle: www.darkvampires.de